Pl.Pol.559b-560a Protokoll zum 19.05.24

Zeit: 10:00 – 12:05 Uhr                -              Ort: online
anwesend: Holger, Walter, Friedrich

Herzlicher Gruß von Caren an alle, die sie kennen. Wir hatten gestern ein längeres Telefonat. Sie ist glücklich in ihrem neuen Beruf, mit ihrem Kollegium und ihren Schülern. Allerdings ist diese seminarbegleitete Zeit mit Seminarbesuchen und Unterrichtsbesuchen sehr anstrengend. Denn anders als die jungen Referendare geben die Seiteneinsteiger die volle Unterrichtszeit (minus die fünf Stunden Seminar) – sicher sehr ungerecht, ungeschickt und kurzsichtig vom Arbeitsgeber Staat, der dringend Lehrer braucht. Daher wird sie erst in unsere Gruppe zurückkommen können, wenn der Fulltime-Stress vorüber ist. Aber sie will es unbedingt, sowie es möglich ist.

Übersetzung:

τί δὲ[1] ἡ πέρα τούτων καὶ ἀλλοίων ἐδεσμάτων ἢ τοιούτων ἐπιθυμία, δυνατὴ δὲ[2] κολαζομένη ἐκ νέων καὶ παιδευομένη ἐκ τῶν πολλῶν ἀπαλλάττεσθαι, καὶ βλαβερὰ μὲν σώματι, βλαβερὰ δὲ ψυχῇ πρός τε φρόνησιν καὶ τὸ σωφρονεῖν; ἆρά [559c] γε ὀρθῶς οὐκ ἀναγκαία ἂν καλοῖτο;

Was aber <ist mit folgendem>? Das Verlangen über diese <Genüsse> hinaus und nach andersartigen Speisen als solchen, das aber, wenn es von Jugend auf gezügelt und erzogen wird, aus den meisten <Menschen> ausgetrieben werden kann, und zum einen dem Körper schädlich ist, zum andern der Seele schädlich ist hinsichtlich Denken und dem Besonnen-Sein, wird es wohl mit Recht nicht notwendig genannt?  

ὀρθότατα μὲν οὖν.

Mit größtem Recht allerdings.

οὐκοῦν καὶ ἀναλωτικὰς φῶμεν εἶναι ταύτας, ἐκείνας δὲ[3] χρηματιστικὰς διὰ τὸ χρησίμους πρὸς τὰ ἔργα εἶναι;

Sollen wir also auch sagen, dass diese verschwenderisch sind, jene aber einträglich, weil sie nützlich sind fürs Handeln?

τί μήν;

Was sonst?

οὕτω δὴ καὶ περὶ ἀφροδισίων καὶ τῶν ἄλλων φήσομεν;

Werden wir nun so auch über die Sexualität und die anderen Triebe reden?

οὕτω.

Ja, so.

ἆρ᾽ οὖν καὶ ὃν νυνδὴ κηφῆνα ὠνομάζομεν, τοῦτον ἐλέγομεν τὸν τῶν τοιούτων ἡδονῶν καὶ ἐπιθυμιῶν γέμοντα καὶ [559d] ἀρχόμενον ὑπὸ τῶν μὴ ἀναγκαίων, τὸν δὲ ὑπὸ τῶν ἀναγκαίων φειδωλόν τε καὶ ὀλιγαρχικόν;

Haben wir also (als diesen, den wir gerade Drohne genannt haben) wie wir gerade den Namen Drohne gebraucht haben, so auch denjenigen bezeichnet, der voller solcher Lüste und Begierden ist und von den nicht notwendigen <Begierden> beherrscht wird, denjenigen aber, der von den notwendigen <Begierden gelenkt wird>, als sparsam und oligarchisch?

ἀλλὰ τί μήν;

Aber was sonst?

πάλιν τοίνυν, ἦν δ᾽ ἐγώ, λέγωμεν ὡς ἐξ ὀλιγαρχικοῦ δημοκρατικὸς γίγνεται. φαίνεται δέ μοι τά γε πολλὰ ὧδε γίγνεσθαι.

Lass uns also wieder, sagte ich darüber sprechen, wie aus einem oligarchischen ein demokratischer <Mensch> wird. Er scheint mir aber meistens folgendermaßen zu entstehen.

πῶς;

Wie?

ὅταν νέος, τεθραμμένος ὡς νυνδὴ ἐλέγομεν, ἀπαιδεύτως τε καὶ φειδωλῶς, γεύσηται κηφήνων μέλιτος, καὶ συγγένηται αἴθωσι θηρσὶ καὶ δεινοῖς, παντοδαπὰς ἡδονὰς καὶ ποικίλας καὶ παντοίως ἐχούσας δυναμένοις σκευάζειν, ἐνταῦθά που [559e] οἴου εἶναι ἀρχὴν αὐτῷ μεταβολῆς ... [4]ὀλιγαρχικῆς τῆς ἑαυτῷ εἰς δημοκρατικήν.

Wenn ein junger Mann, aufgezogen wie wir gerade gesagt haben, nämlich ohne Bildung und sparsam, vom Honig der Drohnen kostet und zusammenkommt mit gierigen und gefährliche (Tieren) Exemplaren, welche mannigfache, bunte und sich vielfältig verhaltende Lüste beschaffen können, dann,  (glaube) sei sicher, ist <das> für ihn der Anfang der Veränderung ... nämlich der ihm eigenen oligarchischen zur demokratischen <Einstellung>.

πολλὴ ἀνάγκη, ἔφη.

Ganz notwendig, sagte er.

ἆρ᾽ οὖν, ὥσπερ ἡ πόλις μετέβαλλε βοηθησάσης τῷ ἑτέρῳ μέρει συμμαχίας ἔξωθεν, ὁμοίας ὁμοίῳ, οὕτω καὶ ὁ νεανίας μεταβάλλει βοηθοῦντος αὖ εἴδους ἐπιθυμιῶν ἔξωθεν τῷ ἑτέρῳ τῶν παρ᾽ ἐκείνῳ, συγγενοῦς τε καὶ ὁμοίου;

Nichtwahr, wie die Stadt sich veränderte, als Unterstützung dem einen Teil <von ihr> von außen zu Hilfe kam, nämlich (die gleiche dem gleichen) gleich zu gleich, so verändert sich auch der junge Mann, wenn wiederum eine Art von Begierden von außen der einen <Art> der <Begierden> bei jenem zu Hilfe kommt, nämlich die verwandte und gleiche.

παντάπασιν μὲν οὖν.

Voll und ganz gewiss.

καὶ ἐὰν μέν γε οἶμαι ἀντιβοηθήσῃ τις τῷ ἐν ἑαυτῷ ὀλιγαρχικῷ συμμαχία, ἤ ποθεν παρὰ τοῦ πατρὸς ἢ καὶ τῶν [560a] ἄλλων οἰκείων[5] νουθετούντων τε καὶ κακιζόντων, στάσις δὴ καὶ ἀντίστασις καὶ μάχη ἐν αὐτῷ πρὸς αὑτὸν τότε γίγνεται.

Und wenn, glaube ich, dem oligarchischen <Teil> in ihm Unterstützung zu gegenteiliger Hilfe kommt, sei es wohl vom Vater oder auch wenn die anderen Angehörigen ihn tadeln und schelten, dann gibt es nun einen Aufstand, Gegenaufstand und Kampf in ihm gegen sich selbst.

τί μήν;

Was sonst?

 

Anmerkungen dazu:

Grundsätzliche Bitte: Wenn Euch meine Anmerkungen zu lang oder langweilig sind und wenn Ihr sie sowieso nicht lest, dann sagt es mir, und ich schenke sie mir. Auf keinen Fall möchte ich mich wie unten wiederholen müssen.

  1. Sprachliches
    1. τὸ σωφρονεῖν: Die σωφροσύνη gehört zu Platons vier Kardinaltugenden (das Präfix Kardinal- ist spät), die er im 4. Buch mehr oder weniger klar den drei Ständen zuerkennt: σοφία den Herrschern, ἀνδρεία den Wächter und σωφροσύνη den Bauern und Handwerkern, sie ist aber auch als ausgleichendes Prinzip der Harmonie und Übereinstimmung für alle gültig, während die δικαιοσύνη das alles verbindende oberste Prinzip ist. Platon definiert die σωφροσύνη zu Anfang so: κόσμος πού τις, ἦν δʼ ἐγώ, ἡ σωφροσύνη ἐστὶν καὶ ἡδονῶν τινων καὶ ἐπιθυμιῶν ἐγκράτεια, ὥς φασι κρείττω δὴ αὑτοῦ ἀποφαίνοντες „Eine schöne Ordnung ist irgendwie die Besonnenheit und Beherrschung gewisser Lüste und Begierden, wie man sagt, wenn man jemanden nun  stärker, als er selbst ist, nennt“ (d.i. Selbstbeherrschung). Und am Ende definiert er sie so: ὥστε ὀρθότατʼ ἂν φαῖμεν ταύτην τὴν ὁμόνοιαν σωφροσύνην εἶναι, χείρονός τε καὶ ἀμείνονος κατὰ φύσιν συμφωνίαν ὁπότερον δεῖ ἄρχειν καὶ ἐν πόλει καὶ ἐν ἑνὶ ἑκάστῳ „Und so dürften wir sehr zu recht sagen, dass diese Gleichgesinntheit <die> Besonnenheit sei, <die> Übereinstimmung des von Natur aus Schlechteren und Besseren <darüber>, wer von beiden herrschen soll, sowohl in der Stadt als auch in jedem einzelnen“.
    2. Platon ist nicht der erste, der Tugenden in einer Vierergruppe zusammenfasst. Aischylos verbindet z.B. folgende vier in einem Trimeter: σώφρων δίκαιος ἄγαθος εὐσεβὴς ἀνήρ. (Sieben gegen Theben 610).
      In Ciceros de officiis heißen die Kardinaltugenden: iustitia, temperantia, fortitudo und sapientia/ prudentia.
      Seit 1 Kor 13,13 kommt die Trias πίστις, (fides), ἐλπίς (spes), ἀγάπη (caritas) hinzu.
    3. Ich habe erst beim Aufschreiben der Übersetzung gemerkt, wie schwer einige Textstellen ins Deutsche zu bringen sind, wenn man den Wortlaut möglichst in der Reihenfolge und dennoch verständlich übertragen will. Man kann den Text grammatisch genau verstehen und ihn dann doch nur schwer in verständliches Deutsch bringen.
      Und Holger hat recht, der schwierigere Teil fiel immer gerade auf Walter.
    4. Besonders vertrackt ist der Satz in [559c]
      ἆρ᾽ οὖν καὶ ὃν νυνδὴ κηφῆνα ὠνομάζομεν, τοῦτον ἐλέγομεν τὸν τῶν τοιούτων ἡδονῶν καὶ ἐπιθυμιῶν γέμοντα καὶ ἀρχόμενον ὑπὸ τῶν μὴ ἀναγκαίων, τὸν δὲ ὑπὸ τῶν ἀναγκαίων φειδωλόν τε καὶ ὀλιγαρχικόν;
      Und ich bitte darum, die folgende Erläuterung geduldig nachzuvollziehen:
      Ich beginne der zweiten Satzhälfte, deren Syntax leichter nachzuvollziehen ist:
      τὸν δὲ ὑπὸ τῶν ἀναγκαίων <ἀρχόμενον> φειδωλόν τε καὶ ὀλιγαρχικόν <ἐλέγομεν>.
      Der Artikel macht deutlich, dass τὸν δὲ ... Akk.Obj. zu ἐλέγομεν und dass das artikellose φειδωλόν τε καὶ ὀλιγαρχικόν Prädikatsnomen ist, das ja im Dt. als endungsloses Adjektiv, also wie ein Adverb erscheint:
      „haben wir aber den von den notwendigen <Begierden> Geleiteten sparsam und oligarchisch genannt“.
      Ebenso ist in der ersten Satzhälfte der Ausdruck mit Artikel
      τὸν τῶν τοιούτων ἡδονῶν καὶ ἐπιθυμιῶν γέμοντα καὶ ἀρχόμενον ὑπὸ τῶν μὴ ἀναγκαίων
      das Akk.Obj. zu ἐλέγομεν - und das Prädikatsnomen ist τοῦτον, das also adverbial, d.h. mit „so“, übersetzt werden müsste: „haben wir den von derartigen Lüsten und Begierden Angefüllten und von den nicht notwendigen <Begierden> Beherrschten so genannt“.
      Entsprechend müssen wir den von τοῦτον abhängigen Relativsatz nun adverbial übersetzen:
      ὃν νυνδὴ κηφῆνα ὠνομάζομεν; und das ergibt „wie wir <ihn> gerade als Drohne bezeichnet haben“
      oder besser „wie wir gerade den Namen/ Ausdruck Drohne gebraucht haben“.
      Das ergibt in der Reihenfolge des Textes im Ganzen dann die Fassung:
      „Haben wir also, wie wir gerade den Namen/ Ausdruck Drohne gebraucht haben, so auch den von derartigen Lüsten und Begierden Angefüllten und von den nicht notwendigen <Begierden> Geleiteten genannt, aber den von den notwendigen <Begierden> Geleiteten sparsam und oligarchisch?
    5. In der Üersetzung oben habe ich eine andere Variante gewählt und das Prädikativum mit „als“ umschrieben sowie die Partizipien mit Relativsätzen wiedergegeben.  
  2. Inhaltliches:
    Der oligarchische Mensch entartet also zur „Drohne“, wenn er gemäß dem Beispiel der Ernährung mehr als die zum Lebenserhalt und zum Wohlbefinden notwendige Zukost begehrt.
    Wir haben hier noch einmal diskutiert, was ich im letzten Protokoll schon ausführlich dargestellt hatte.
    Ich zitiere daraus:
    „Um dann den demokratischen Menschen zu charakterisieren, geht Platon nochmals vom Verhalten und von der Einstellung der Oligarchen aus, die verschwenderischen (für sie unnötigen) Begierden in sich zu unterdrücken und nur die gewinnbringenden (für sie nötigen) zuzulassen, von der Einstellung also, die dem Sohn vom oligarchischen Vater vorgelebt wird. Platon wird hier also nicht den Aufstand des „Proletariats“ als Anstoß zur Demokratie darstellen (davon war schon die Rede), sondern – wie schon bei den anderen Verfassungen – die Einstellungsänderung der Führungskräfte; denn das ist sein Thema: Welcherart ist die Führungskraft, jetzt also der demokratische Politiker?“
    Und diese Untersuchung wird letztlich nur angestellt, um den „gerechten Menschen“ zu definieren; und sie kann nicht positivistisch-historisch, sondern überhaupt nur idealtypisch angelegt werden. Dies macht Platon schon dadurch klar, dass er bei jedem Übergang von einem verfassungstypischen Menschen zum nächsten dasselbe modellhafte Schema anwendet, als handle es sich einfach um den Übergang von der Einstellung eines Vaters zu der seines Sohnes.

Nächstes Treffen: Sonntag, 26.05.24, 10:00 Uhr.

Nächstes Treffen:

Ich habe den neuen Text mit Anmerkungen und die wenigen Vokabeln dazu bis [562b] in Plat.Pol.VIII hochgeladen.
Nach wie vor bin ich empfänglich für schriftliche Übersetzungsversuche.

 


[1]τίδὲ ... ἐπιθυμία: „Wie aber, das ... Verlangen“, freier: Wie aber steht es um das ... Verlangen...

[2]δυνατὴ δὲ... καὶβλαβερὰ ... : wenn/weil es aber ... kann ...  und weil es schädlich ist ...“

[3]ταύτας = τὰς περὰ τῆς εὐεξίας ἐπιθυμίας, ἐκείνας δὲ = εἴ πῄ τινα ὠφελίαν πρὸς εὐεξίαν παρέχονται

[4]ich ergänze: ἐκτῆςδιανοίας„von der ... Einstellung“

[5]τῶνἄλλωνοἰκείωννουθετούντων: schon in [549e] beim „Entstehen“ des timokratischen Jünglings spielen οἱοἰκέται„die Hausgenossen, Diener“ als konservative Kraft neben dem Vater eine stabilisierende Rolle.