Plat.Pol.558b-559b Protokoll zum 12.05.24

Zeit: 10:00 – 12:10 Uhr            -           Ort: online
anwesend: Holger, Walter, Friedrich

Übersetzung:

[558b] ἡ[1] δὲ συγγνώμη καὶ οὐδ᾽ ὁπωστιοῦν[2] σμικρολογία αὐτῆς, ἀλλὰ καταφρόνησις ὧν ἡμεῖς ἐλέγομεν σεμνύνοντες, ὅτε τὴν πόλιν ᾠκίζομεν, ὡς εἰ μή τις ὑπερβεβλημένην φύσιν ἔχοι, οὔποτ᾽ ἂν γένοιτο ἀνὴρ ἀγαθός, εἰ μὴ παῖς ὢν εὐθὺς παίζοι ἐν καλοῖς καὶ ἐπιτηδεύοι τὰ τοιαῦτα πάντα, ὡς μεγαλοπρεπῶς[3] καταπατήσασ᾽ ἅπαντ᾽ αὐτὰ οὐδὲν φροντίζει ἐξ ὁποίων ἄν τις ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ τὰ πολιτικὰ ἰὼν πράττῃ, ἀλλὰ τιμᾷ, [558c] ἐὰν φῇ μόνον εὔνους εἶναι τῷ πλήθει;

Aber ihr (der Demokratie) Verzeihen ­ und keinesfalls <als> Belanglosigkeit, sondern <als> Verachtung der Dinge, die wir meinten, als wir die Stadt (gründeten) entwarfen, dass nämlich, wenn einer keine vorzügliche Veranlagung hat, niemals ein guter Mann werden könne, wenn er nicht sofort in seiner Kindheit in schöner/guter Umgebung spielt und sich mit all solchen Dingen beschäftigt, ­ wie freigebig trampelt es dies alles nieder und bedenkt/berücksichtigt keinesfalls, aus welcherart Verhältnissen einer zur Politik kommend auch immer handelt, sondern ehrt ihn, wenn er sagt, allein der Menge wohlgesonnen zu sein.

πάνυ γ᾽, ἔφη, γενναία[4].

Es ist gewiss, sagte er, sehr edel.

ταῦτά τε δή, ἔφην, ἔχοι ἂν καὶ τούτων ἄλλα ἀδελφὰ δημοκρατία, καὶ εἴη, ὡς ἔοικεν, ἡδεῖα πολιτεία καὶ ἄναρχος καὶ ποικίλη, ἰσότητά τινα ὁμοίως ἴσοις τε καὶ ἀνίσοις διανέμουσα.

Sowohl diese Dinge dürfte nun, sagte ich, als auch andere ihnen verwandte die Demokratie enthalten, und sie dürfte, wie es scheint, eine angenehme, anarchische und bunte Verfassung sein, wenn sie eine gewisse Gleichheit gleichermaßen Gleichen und Ungleichen zuteilt.

καὶ μάλ᾽, ἔφη, γνώριμα λέγεις.

Da sagst du, meinte er, Allbekanntes.

ἄθρει δή, ἦν δ᾽ ἐγώ, τίς ὁ τοιοῦτος ἰδίᾳ. ἢ πρῶτον σκεπτέον, ὥσπερ τὴν πολιτείαν ἐσκεψάμεθα, τίνα τρόπον γίγνεται;

Betrachte nun, sagte ich, wer/ wie ein solcher privat/ als Einzelner ist. Oder müsse<n wir> zuerst betrachten, so wie wir den Staat betrachtet haben, auf welche Weise er entsteht.

ναί, ἔφη.

Ja, sagte er.

ἆρ᾽ οὖν οὐχ ὧδε; τοῦ φειδωλοῦ ἐκείνου καὶ ὀλιγαρχικοῦ [558d] γένοιτ᾽ ἂν οἶμαι ὑὸς ὑπὸ τῷ πατρὶ τεθραμμένος ἐν τοῖς ἐκείνου ἤθεσι;

Verhält es sich nun nicht so? Dürfte etwa ein Sohn jenes sparsamen und oligarchischen Mannes, unter Aufsicht des Vaters erzogen, nach der Art von jenem werden/  heranwachsen.

τί γὰρ οὔ;

Warum denn nicht?

βίᾳ δὴ καὶ οὗτος ἄρχων τῶν ἐν αὑτῷ ἡδονῶν, ὅσαι ἀναλωτικαὶ μέν, χρηματιστικαὶ δὲ μή· αἳ δὴ οὐκ ἀναγκαῖαι κέκληνται -

Auch dieser also als einer, der mit Gewalt die Begierden in sich beherrscht, soweit sie verschwenderisch sind, die gewinnbringenden/ Geld verschaffenden aber nicht. Welche also nicht notwendig heißen -

δῆλον, ἔφη.

Offenbar, sagte er.

βούλει οὖν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἵνα μὴ σκοτεινῶς διαλεγώμεθα, πρῶτον ὁρισώμεθα τάς τε ἀναγκαίους ἐπιθυμίας καὶ τὰς μή;

Willst du nun, sagte ich, damit wir nicht im Unklaren das Gespräch führen, dass wir zuerst die notwendigen Begierden bestimmen und die nicht notwendigen?

βούλομαι, ἦ δ᾽ ὅς.

Ja, will ich, sagte er.

οὐκοῦν ἅς τε οὐκ ἂν οἷοί τ᾽ εἶμεν ἀποτρέψαι, δικαίως [558e] ἂν ἀναγκαῖαι καλοῖντο, καὶ ὅσαι ἀποτελούμεναι ὠφελοῦσιν ἡμᾶς; τούτων γὰρ ἀμφοτέρων ἐφίεσθαι ἡμῶν τῇ φύσει ἀνάγκη. ἢ οὔ;

Nichtwahr, einerseits <die>, welche abzuwenden wir nicht in der Lage sind, dürften wir wohl zu Recht notwendig nennen, und andererseits all die, die, wenn sie befriedigt werden, uns nützen? Denn diesen beiden Folge zu leisten zwingt uns unsere Natur. Oder nicht?

καὶ μάλα.

Ja, klar.

[559a] δικαίως δὴ τοῦτο ἐπ᾽ αὐταῖς ἐροῦμεν, τὸ ἀναγκαῖον.

Mit Recht werden wir bei ihnen dieses nennen/ diesen Ausdruck gebrauchen, nämlich die Notwendigkeit.

δικαίως.

Mit Recht.

τί δέ; ἅς γέ τις ἀπαλλάξειεν ἄν, εἰ μελετῷ ἐκ νέου, καὶ πρὸς οὐδὲν ἀγαθὸν ἐνοῦσαι δρῶσιν, αἱ δὲ καὶ τοὐναντίον, πάσας ταύτας εἰ μὴ ἀναγκαίους φαῖμεν εἶναι, ἆρ᾽ οὐ καλῶς ἂν λέγοιμεν;

Weiter. Welche man jedenfalls ablegen könnte, wenn man sich von Jugend an bemüht, und <welche> zudem in uns nichts Gutes bewirken, die vielmehr auch das Gegenteil <bewirken> ­ wenn wir <nun> sagen, dass all diese nicht nötig sind, dürften wir dann (gut sprechen) das Richtige sagen.

καλῶς μὲν οὖν.

Ja, bestimmt das Richtige.

προελώμεθα δή τι παράδειγμα ἑκατέρων αἵ εἰσιν, ἵνα τύπῳ λάβωμεν αὐτάς;

Wollen nun wir ein Beispiel von beiden Arten, (welche) wie sie sind, heranziehen, damit wir sie modellhaft erfassen;

οὐκοῦν χρή.

Das ist wohl nötig.

ἆρ᾽ οὖν οὐχ ἡ[5] τοῦ φαγεῖν μέχρι ὑγιείας τε καὶ εὐεξίας [559b] καὶ αὐτοῦ σίτου τε καὶ ὄψου ἀναγκαῖος ἂν εἴη;

Ist nun nicht etwa das Verlangen nach Essen im Rahmen der Gesundheit und des Wohlbefindens, und zwar sowohl nach Brot selbst als auch nach Zukost, notwendig?

οἶμαι.

Ich glaube, ja.

ἡ μέν γέ που τοῦ σίτου κατ᾽ ἀμφότερα ἀναγκαία, ᾗ τε ὠφέλιμος ᾗ τε <μὴ[6]> παῦσαι ζῶντα δυνατή.

Dasjenige nach Brot ist wohl in beiderlei Hinsicht notwendig, nämlich insofern sie sowohl nützlich als auch, wenn sie nicht befriedigt wird, in der Lage ist, (einen Lebenden zu beenden) das Leben zu beenden.

ναί.

Ja.

ἡ δὲ ὄψου, εἴ πῄ τινα ὠφελίαν πρὸς εὐεξίαν παρέχεται, πάνυ μὲν οὖν.

Und wenn dasjenige nach Zukost irgendwie eine Hilfe zum Wohlergehen/ zu guter Konstitution beiträgt, <ist es> doch wohl gewiss <notwendig>.


Beobachtungen dazu:

  1. [558b] ἴων „gehend“ zu ἰέναι „gehen“ ist zu unterscheiden von ὤν „seiend“ zu εἶναι „sein“.
    In allen Formen von ἰέναι ist der Wortstamm ἰ- (lat. i-re) enthalten; s. KA3_Wurzelpräsens
  2. [558b] Konj. πράττῃ mit ἄν im abh. Nebensatz: iterativ, s. Sy12_Modi1 C), ganz unten:
    in οὐδὲν φροντίζει ἐξ ὁποίων ἄν τις ἐπιτηδευμάτων ἐπὶ τὰ πολιτικὰ ἰὼν πράττῃ
    „berücksichtigt keinesfalls, aus welcherart Verhältnissen einer zur Politik kommend auch immer handelt“
  3. [558c] σκεπτέον s. Sy16_Verbaladjektive
  4. [558d] ἀναγκαῖαι (3-endig) und τάς τε ἀναγκαίους ἐπιθυμίας (2-endig): Dasselbe Adjektiv kann also 2-endig oder 3-endig gebraucht werden. Mir scheint die 2-Endigkeit vorgezogen zu werden, wenn sonst zu viele gleichklingende Wortenden (Homoioteleuta) beieinander stünden.
  5. [559a] In dem folgenden Beispiel der Ernährung unterscheidet Sokrates zwischen „unabdingbar nötigem“ Verlangen (dem nach Brot) und „ziemlich nötigem“ Verlangen (dem nach Zukost). noch ist nicht klar, warum er diese Unterscheidung macht.
  6. Inhaltlich haben wir uns noch einmal vor Augen geführt, dass Platon die Entwicklung der Demokratie aus der Oligarchie (Plutokratie) darin begründet sieht, dass die Reichen die Proletarisierung der anderen Seite der Gesellschaft nicht wahrnehmen. In [558b] wird nun in Bezug auf die Laxheit und Gleichgültigkeit der Demokratie in der Strafverfolgung betont, dass auch der Mangel an Erziehung und Bildung dazu beiträgt; denn diese Laxheit mißachtet alle in Platons idealem Staat für heilig gehaltene Strenge, in der man aufwachsen und die man einüben muss. In der Demokratie reicht es dagegen für die politische Betätigung, wenn man sich volksfreundlich gibt. Und so schließt Platon die Kennzeichnung der Demokratie in [558c] mit der „wohlbekannten“ Formel ab, dass „Gleichheit gleichermaßen den Gleichen und Ungleichen“ zugemessen werde.
    Um dann den demokratischen Menschen zu charakterisieren, geht Platon nochmals vom Verhalten und von der Einstellung der Oligarchen aus, die verschwenderischen (für sie unnötigen) Begierden in sich zu unterdrücken und nur die gewinnbringenden (für sie nötigen) zuzulassen, von der Einstellung also, die dem Sohn vom oligarchischen Vater vorgelebt wird. Er wird hier also nicht den Aufstand des „Proletariats“ als Anstoß zur Demokratie darstellen (davon war schon die Rede), sondern – wie schon bei den anderen Verfassungen – die Einstellungsänderung der Führungskräfte; denn das ist sein Thema: Welcherart ist die Führungskraft, jetzt also der demokratische Politiker?
    Am Anfang dieser Untersuchung kommt er noch einmal auf die Unterscheidung von nötigen und unnötigen Begierden zurück, jetzt aber nicht mehr aus der Sicht des Oligarchen, sondern ganz grundsätzlich. Und die Unterscheidung fällt nun differenzierter aus, so dass er dazu das Beipiel der Ernährung heranzuziehen für nötig hält; s.o. zu 5).

Nächstes Treffen: So, 19.05.2024, 10:00 Uhr

Vorbereitung dafür:
In Plat.Pol.VIII habe ich Text und Vokabeln bis 560d hochgeladen.
Nach wievor bin ich auch empfänglich für eine schrftl. Übersetzung per E-Mail.

 


[1]ἡ δὲ συγγνώμη καὶ οὐδ᾽ ὁπωστιοῦν σμικρολογία αὐτῆς: die drei Substantive bilden zusammen das Subjekt des Satzes, das zugehörige Prädikat ist καταπατήσασα ... φροντίζει.

[2]καὶ οὐδ᾽ ὁπωστιοῦν „und auch keinesfalls“

[3]ὡς μεγαλοπρεπῶς „wie freigebig“: hiermit wird der HS fortgesetzt

[4] Ironie

[5]ἡ erg. ἐπιθυμία

[6]μή: lies μὴ ἀποτελουμένη