Plat.Pol.554e - Protokoll 17.03.2024
Zeit_ 10:00 – 12:00 Uhr - Ort: online
anwesend: Caren, Ulf, Friedrich
Übersetzung
καὶ μὴν ἀνταγωνιστής[1] γε ἰδίᾳ ἐν πόλει ὁ φειδωλὸς [555a] φαῦλος ἤ[2] τινος νίκης ἢ ἄλλης φιλοτιμίας τῶν καλῶν, χρήματά τε οὐκ ἐθέλων εὐδοξίας ἕνεκα καὶ τῶν τοιούτων ἀγώνων ἀναλίσκειν, δεδιὼς τὰς ἐπιθυμίας τὰς ἀναλωτικὰς ἐγείρειν καὶ συμπαρακαλεῖν ἐπὶ συμμαχίαν τε καὶ φιλονικίαν, ὀλίγοις τισὶν ἑαυτοῦ πολεμῶν ὀλιγαρχικῶς τὰ πολλὰ ἡττᾶται καὶ πλουτεῖ. | Und der Sparsame ist privat in der Stadt ein schlechter Gegenspieler um irgendeinen Sieg oder eine andere Ehre bei guten Dingen und da er kein Geld der Ehre oder solcher Konkurrenzen halber aufwenden will aus Furcht, die Begierden des Aufwands zu wecken und zum Wettstreit und zur Streitlust aufzurufen, führt er nur recht weniges von seinem Vermögen ins Feld und unterliegt meist und bleibt reich. |
καὶ μάλα, ἔφη. | Ja, bestimmt, sagte er. |
ἔτι οὖν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ἀπιστοῦμεν μὴ κατὰ τὴν ὀλιγαρχουμένην πόλιν ὁμοιότητι τὸν φειδωλόν τε καὶ χρηματιστὴν [555b] τετάχθαι; | Bezweifeln wir nun noch, sagte ich, dass der Sparsame und Geldgierige in Entprechung zur oligarchisch regierten Stadt aufgestellt ist? |
οὐδαμῶς, ἔφη. | Keinesfalls, sagte er. |
δημοκρατίαν δή, ὡς ἔοικε, μετὰ τοῦτο σκεπτέον, τίνα τε γίγνεται τρόπον, γενομένη τε ποῖόν τινα ἔχει, ἵν᾽ αὖ τὸν τοῦ τοιούτου ἀνδρὸς τρόπον γνόντες παραστησώμεθ᾽ αὐτὸν εἰς κρίσιν. | Dann müssen wir, wie es scheint, danach die Demokratie betrachten, auf welche Weise sie entsteht und welche Art sie nach ihrer Entstehung hat, damit wir wiederum den Charakter des so gearteten Mannes erkennen und ihn der Prüfung unterziehen <können>. |
ὁμοίως γοῦν ἄν, ἔφη, ἡμῖν αὐτοῖς πορευοίμεθα. | In Übereinstimmung mit uns selbst,sagte er, sollten wir verfahren. |
οὐκοῦν, ἦν δ᾽ ἐγώ, μεταβάλλει μὲν τρόπον τινὰ τοιόνδε ἐξ ὀλιγαρχίας εἰς δημοκρατίαν, δι᾽ ἀπληστίαν τοῦ προκειμένου ἀγαθοῦ, τοῦ ὡς πλουσιώτατον δεῖν γίγνεσθαι; | Nichtwahr, <die Verfassung> verändert sich auf folgende Weise aus der Oligarchie in die Demokratie, nämlich aufgrund der Gier nach dem vorgesetzten Gut/ Ziel, möglichst reich werden zu müssen. |
πῶς δή; | Wie denn? |
[555c] ἅτε οἶμαι ἄρχοντες ἐν αὐτῇ οἱ ἄρχοντες διὰ τὸ πολλὰ κεκτῆσθαι, οὐκ ἐθέλουσιν εἴργειν νόμῳ[3] τῶν νέων ὅσοι[4] ἂν ἀκόλαστοι γίγνωνται, μὴ ἐξεῖναι αὐτοῖς[5] ἀναλίσκειν τε καὶ ἀπολλύναι τὰ αὑτῶν, ἵνα ὠνούμενοι τὰ τῶν τοιούτων καὶ εἰσδανείζοντες ἔτι πλουσιώτεροι καὶ ἐντιμότεροι γίγνωνται. | Weil, wie ich gleaube, in ihr die Regierenden aufgrund des großen Besitzes regieren und durch ein Gesetz alle diejenigen der jungen Leute, die zügellos werden, nicht zurückhalten wollen, dass es ihnen erlaubt ist ihren Besitz aufzubrauchen und zu verlieren, damit sie durch den Kauf des Besitzes von solchen Leuten und durch Kredite noch reicher und angesehener werden. |
παντός γε μᾶλλον. | Allerdings. |
οὐκοῦν δῆλον ἤδη τοῦτο ἐν πόλει, ὅτι πλοῦτον τιμᾶν καὶ σωφροσύνην ἅμα ἱκανῶς κτᾶσθαι ἐν τοῖς πολίταις [555d] ἀδύνατον, ἀλλ᾽ ἀνάγκη ἢ τοῦ ἑτέρου ἀμελεῖν ἢ τοῦ ἑτέρου; | Nichtwahr, das ist offensichtlich, dass es in einer Stadt unter den Bürgern unmöglich ist, Reichtum zu ehren und zugleich ausreichend Besonnenheit zu bewahren, sondern dass es unausweichlich ist, entweder das eine außer Acht zu lassen oder das andere. |
ἐπιεικῶς, ἔφη, δῆλον. | Das ist ziemlich offensichtlich. |
παραμελοῦντες δὴ ἐν ταῖς ὀλιγαρχίαις καὶ ἐφιέντες ἀκολασταίνειν οὐκ ἀγεννεῖς ἐνίοτε ἀνθρώπους πένητας ἠνάγκασαν γενέσθαι. | Gleichgültig also nachsichtig gegenüber Zügellosigkeit zwingt man in denOligarchien manchmal nicht unedle Menschen arm zu werden. |
μάλα γε. | Sicherlich. |
κάθηνται δὴ οἶμαι οὗτοι ἐν τῇ πόλει κεκεντρωμένοι τε καὶ ἐξωπλισμένοι, οἱ μὲν ὀφείλοντες χρέα, οἱ δὲ ἄτιμοι γεγονότες, οἱ δὲ ἀμφότερα, μισοῦντές τε καὶ ἐπιβουλεύοντες τοῖς κτησαμένοις τὰ αὑτῶν καὶ τοῖς ἄλλοις, νεωτερισμοῦ [555e] ἐρῶντες. | Diese sitzen nun also in der Stadt, mit Stacheln und bewaffnet, die einen verschuldet, die anderen ehrlos geworden, wieder andere beides, voll Hass und als Bedrohung für die, die das Ihre in Besitz genommen haben, und für die anderen, und auf Umsturz aus. |
ἔστι ταῦτα. | Das ist so. |
οἱ δὲ δὴ χρηματισταὶ ἐγκύψαντες, οὐδὲ δοκοῦντες τούτους ὁρᾶν, τῶν λοιπῶν τὸν ἀεὶ[6] ὑπείκοντα[7] ἐνιέντες ἀργύριον τιτρώσκοντες, καὶ τοῦ πατρὸς[8] ἐκγόνους τόκους πολλαπλασίους [556a] κομιζόμενοι, πολὺν[9] τὸν κηφῆνα καὶ πτωχὸν ἐμποιοῦσι τῇ πόλει. | Die Geldgierigen aber ducken sich weg und scheinen diese nicht zu sehen, während sie von den übrigen, den, der jeweils auf dem Rückzug ist, mit Geld beschießen und ihn verwunden, und während sie vom Kapital als Ergebnis vielfache Zinsen bekommen, der Stadt viele Drohnen Bettler erscchaffen. |
πῶς γάρ, ἔφη, οὐ πολύν; | Natürlich viele, sagte er. |
Bemerkungen dazu:
[555c] ὠνούμενοι τὰ τῶν τοιούτων καὶ εἰσδανείζοντες „indem sie deren Besitz aufkaufen und mit Krediten belegen“ – Uns irritierte beim Übersetzen Probleme das καί, weil wir uns fragten, wie das Kaufen mit dem Beleihen desselben Objektes einhergehen soll. Das ist jedoch nicht gemeint; sondern das Kaufen und das Beleihen gelten verschiedenen Objekten; hier wäre ein ἤ statt des καί leichter verständlich gewesen.
Das geschilderte Verhalten der Oligarchen, die aufgrund ihrer verborgenen (ἀποκύψαντες) Gier nicht wahrnehmen, dass sie unter den Ausgebeuteten nicht nur Aufruhr, sondern auch Ohnmacht züchten, brachte uns zu einer heftigen Diskussion der Thesen des (emeritierten) Kieler Psychologie-Professors Rainer Mausfeld, der für eine eher bürgerliches Publikum mit seinen vielen Vorträgen und seinen Auftritten in YouTube so etwas wie ein Guru des Anti-Neokapitalismus und der Presse-Kritik geworden zu sein scheint. Ulf gab uns folgenden Link:
https://www.youtube.com/watch?v=-kLzmatet8w
Sein zentrales Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ von 2016 wird in der NZZ gefeiert: „Eine so schmerzhafte wie brillante Endoskopie des gegenwärtigen politischen Systems. Mausfeld ist ein Volksaufklärer in der Denktradition Humboldts, Deweys und Chomskys ... ein Weckruf zur rechten Zeit“ (aus Wikipedia). Die ebenfalls doch eher links anzusiedelnde SZ jedoch lässt kein gutes Haar an ihm (die Zusammenfassung fand ich im Perlentaucher): „Tanjev Schultz vernimmt nur krude Bescheidwisserei aus Rainer Mausfelds Buch. Die von Mausfeld kritisierten Manipulationen des Neoliberalismus kann er nicht erkennen, ebensowenig die vom Autor verdammte Lug-und-Trug-Presse. Da muss Mausfeld den Kopf ganz schön tief in den Sand gesteckt haben, ahnt Schultz. Außer schematische, wohlfeile, nicht sehr originelle Wahrheiten über das Völkerrecht als Instrument der Machtpolitik bekommt der Rezensent einen halbseidenen Mix aus Adorno und Chomsky. Ein Buch für linke Wutbürger, findet er.“
Das neuste Buch von Rainer Mausfeld erschien erst 2023:
Hybris und Nemesis : wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt - Einsichten aus 5000 Jahren
Mit einem Inhaltsverzeichnis, das viel verspricht, zu viel, um noch seriös zu sein?:
„Intro -- Titelseite -- Inhalt -- Prolog -- Einführung und Überblick -- I Mensch und Macht -- 1 Macht und die Beschaffenheit des Menschen -- 1.1 Zur Funktionslogik der Macht -- 1.2 Die Grundausstattung des menschlichen Geistes für den Umgang mit Macht -- II Der lange Weg zur zivilisatorischen Leitidee der Demokratie -- 2 Organisationsformen der Macht und gesellschaftliche Instrumente zur Einhegung parasitärer Eliten in frühesten Gesellschaften und Zivilisationen -- 2.1 Instrumente zur Verhinderung einer Elitenbildung in frühesten Jäger- und Sammlergesellschaften -- 2.2 Elitenbildung und Elitenkontrolle in frühesten Zivilisationen -- 2.3 Früheste Megasiedlungen: Cucuteni-Tripolje-Kultur, Çatalhöyük und Indus-Kultur -- 2.4 Elitenbildung und Elitenkontrolle in Städten und Stadtstaaten in Mesopotamien und die soziale Norm »misarum« -- 2.5 Elitenbildung und Elitenkontrolle im Alten Ägypten und die soziale Norm »Ma'at« -- 2.6 Elitenbildung und Elitenkontrolle im alten China - Das »Mandat des Himmels« -- 2.7 Resümee und Ausblick -- 3 Die Erfindung der Demokratie im Athen der Antike -- 3.1 Herrschaftsformen und gesellschaftliche Situation in der Zeit vor Solons Reformen -- 3.2 Das Fundament der Demokratie: Die Reformen von Solon und Kleisthenes -- 3.3 Die Athenische Demokratie -- 3.4 Warum entstand die zivilisatorische Leitidee der Demokratie gerade in Griechenland? -- 3.5 Resümee und Ausblick - mit einer Kurzdarstellung der Demokratiekonzeption der Aufklärung -- 4 »Machiavellische Demokratie«: Elitenherrschaft in Verbindung mit robusten radikaldemokratischen Kontrollinstrumenten -- 4.1 Machiavelli über den unüberbrückbaren Gegensatz von Volk und Eliten in seinen Discorsi -- 4.2 Machiavelli über gesellschaftliche Zerstörungskräfte -- 4.3 Institutionelle und außerinstitutionelle Instrumente der Elitenkontrolle -- 4.4 Resümee und Ausblick.“
Mir ist es mit 36,00 € zu teuer. In der Leibnizbibliothek wird es gerade katlogisiert. Ich warte also, bis man es ausleihen kann.
Nächstes online-Treffen: Sonntag, 10.04.2024, 10:00 Uhr
Vorbereitung wie gehabt. Ich werde den Text in Plat.Pol.VIII nach und nach weiter durcharbeiten und mit Anmerkungen zur Übersetzunghilfe versehen.
[1]ἀνταγωνιστής ff.: ordne ὁφειδωλὸςἰδίᾳἐνπόλειφαῦλοςἀνταγωνιστής <ἐστί> γε
[2]ἤ τινος νίκης ἢ ἄλλης φιλοτιμίας τῶν καλῶν: abhängig von ἀνταγωνιστής
[3]νόμῳ: Dat.instr.
[4]τῶν νέων ὅσοι: lies τῶν νέων τούτους ὅσοι
[5]μὴἐξεῖναιαὐτοῖς: abhängig von εἴργειν – im Dt. nicht verneinend
[6]ἀεί in attributiver Klammer beim Partizip „jeweils“
[7]ὑπείκω „weichen, zurückgehen“, ἐνίημι„hineinschießen“und τιτρώσκω„verwunden“ sind militärische Begriffe
[8]Die Verwandtschaftbegriffe πατήρ, ἔκγονοςund τόκοςsind Metaphern für den Finanzbereich: „Kapital, Ergebnis, Zins“
[9]πολὺν τὸν κηφῆνα ...: Sg. statt Pl. (Synekdoche), im Dt. muss der Pl. stehen