pEpikr.kd.37-40 Protokoll zum 30.04.23

Zeit: 10:00 bis 12:10 Uhr              -              Ort: online
anwesend: Caren, Holger, Ulf, Friedrich

Übersetzung:

152 XXXVII. [1]Τὸ μὲν ἐπιμαρτυρούμενον

ὅτι συμφέρει ἐν ταῖς χρείαις τῆς πρὸς ἀλλήλους κοινωνίας

τῶν νομισθέντων εἶναι δικαίων

ἔχει τὸ ἐν τοῦ δικαίου χώρᾳ εἶναι,

ἐάν τε τὸ αὐτὸ πᾶσι γένηται

ἐάν τε μὴ τὸ αὐτό.

ἐὰν δὲ νόμον θῆταί τις,

μὴ ἀποβαίνῃ δὲ

κατὰ τὸ συμφέρον τῆς πρὸς ἀλλήλους κοινωνίας,

οὐκέτι τοῦτο τὴν τοῦ δικαίου φύσιν ἔχει.

κἂν μεταπίπτῃ τὸ κατὰ τὸ δίκαιον συμφέρον

χρόνον δέ τινα εἰς τὴν πρόληψιν ἐναρμόττῃ,

οὐδὲν ἧττον ἐκεῖνον τὸν χρόνον ἦν δίκαιον

τοῖς μὴ φωναῖς κεναῖς ἑαυτοὺς συνταράττουσιν

ἀλλ' ἁπλῶς εἰς τὰ πράγματα βλέπουσιν.

Das Sich-Bestätigende,

dass es im Gebrauch der Gemeinschaft zueinander nützlich ist,

des Festgesetzten, dass es gerecht sei,

hat das Auf-dem-Gebiet-des-Gerechten-Sein/ befindet sich auf d.Gebiet.d.G.,

sowohl wenn es für alle dasselbe geworden ist,

als auch wenn nicht dasselbe.

Wenn aber einer Recht setzt,

es sich aber nicht ereignet
gemäß dem Nützlichen der Gemeinschaft miteinander,

hat dies nicht mehr die Natur des Gerechten.

Und wenn sich das gemäß dem Gerechten Nützliche ändert,

aber eine Zeitlang in die Vorstellung/ den Begriff passt,

war es in nichts weniger jene Zeitlang gerecht

für diejenigen, die sich nicht durch leere Worte verwirren,

sondern einfach auf die Tatsachen sehen.

153 XXXVIII.

Ἔνθα μὴ καινῶν γενομένων τῶν περιεστώτων πραγμάτων ἀνεφάνη μὴ ἁρμόττοντα εἰς τὴν πρόληψιν

τὰ νομισθέντα δίκαια ἐπ' αὐτῶν ἔργων,

οὐκ ἦν ταῦτα δίκαια.

ἔνθα δὲ καινῶν γενομένων τῶν πραγμάτων

οὐκ ἔτι συνέφερε τὰ αὐτὰ δίκαια κείμενα,

ἐνταῦθα δὲ τότε μὲν ἦν δίκαια, ὅτε συνέφερεν

εἰς τὴν πρὸς ἀλλήλους κοινωνίαν τῶν συμπολιτευομένων·

ὕστερον δ' οὐκ ἦν ἔτι δίκαια, ὅτε μὴ συνέφερεν.

 

Wo es, wenn die Umstände nicht neu geworden waren,

sich ereignete, dass nicht in den Begriff <des Gerechten> passte,
was (bei Werken) in der Praxis selbst das anerkannte Gerechte war,

war dieses nicht das Gerechte.

Wo es aber, wenn die Umstände neu geworden waren,

nicht mehr nützlich war, was als dasselbe Gerechte zugrunde lag,

dort aber war es damals zwar gerecht, als es nützte

für die gegenseitige Gemeinschaft der Mitbürger;
später aber war es nicht mehr gerecht, als es nicht nützlich war.

154 XXXIX. Ὁ τὸ μὴ θαρροῦν ἀπὸ τῶν ἔξωθεν

ἄριστα συστησάμενος

οὗτος τὰ μὲν δυνατὰ ὁμόφυλα κατεσκευάσατο·

τὰ δὲ μὴ δυνατὰ οὐκ ἀλλόφυλά γε[2]·

ὅσα δὲ μηδὲ τοῦτο δυνατὸς ἦν, ἀνεπίμεικτος ἐγένετο,

καὶ [ἐξωρίσατο] ἐξηρείσατο ὅσα τοῦτ' ἐλυσιτέλει πράττειν.

Wer in Bezug auf das Nicht-stark-Sein (vor) gegenüber denen von außen

am besten sich aufgestellt hat,

hat das Mögliche zwar für sich als (ebenbürtig) zugehörig hergestellt;

das Unmögliche aber jedenfalls als andersartig/fremd.

Soweit er dies aber nicht konnte, wurde er unbeteiligt,
und stärkte alles aus, was dies zu tun Erfolg brachte.

XL. Ὅσοι τὴν δύναμιν ἔσχον

τοῦ τὸ θαρρεῖν μάλιστα ἐκ τῶν ὁμορούντων παρασκευάσασθαι, οὕτω καὶ ἐβίωσαν μετ' ἀλλήλων ἥδιστα

τὸ βεβαιότατον πίστωμα ἔχοντες,

καὶ πληρεστάτην οἰκειότητα ἀπολαβόντες

οὐκ ὠδύραντο ὡς πρὸς ἔλεον

τὴν τοῦ τελευτήσαντος προκαταστροφήν.

Alle, die die Macht hatten,

das Am-meisten-stark-Sein-gegenüber-den-Grenznachbarn einzurichten,

lebten so auch miteinander sehr angenehm

weil sie die stärkste Versicherung hatten,

und wenn sie die vollste Vertrautheit erreicht hatten,

beklagten sie nicht wie für Mitleid (als wollten sie Mitleid ausdrücken)

das vorzeitige Ende des Gestorbenen.

Die Übersetzung von Nickel:
XXXIX Wer seine Angelegenheiten am besten gegen die Bedrohungen von außen geordnet hatte, machte sich mit allem, was er beeinflussen konnte, vertraut. Was er aber nicht beeinflussen konnte, blieb ihm wenigstens nicht fremd. Wo ihm aber auch dies unmöglich war, vermied er jeden Kontakt und bemühte sich darum, alles zu tun, was dazu nützlich war.

XL Diejenigen, die die Fähigkeit besaßen, vor allem gegenüber ihren Nachbarn Mut zu entwickeln, lebten auch auf diese Weise sehr angenehm miteinander, weil sie im Besitz des sichersten Pfandes waren, und nachdem sie ein Höchstmaß an Vertrautheit zueinander gewonnen hatten, klagten sie nicht, wenn jemand gestorben war, über seinen vorzeitigen Tod, als ob sie Mitleid erregen wollten.


Unsere Bemühungen um Verständnis und einige Zusätze des Protokollanten:

Vor allem der Satz XXXIX machte uns Probleme, und lange haben wir daran herumgedoktert. Holger stellte dabei die Frage, ob nicht der Text verderbt sein könnte. Dem bin ich (leider jetzt erst!) nachgegangen und habe gefunden, dass Holger richtig lag: Meine beiden Texte (Nickel bei Tusculum und Krautz bei Reclam) lesen ἐξηρείσατο statt des bei Diogenes Laertius überlieferten ἐξωρίσατο. Das verändert nur zwei Buchstaben und ist das Gegenteil dessen, was uns so viel Schwierigkeiten machte. Nun aber ist die Übersetzung klar (s. dort).

Caren wies zudem auf die früheren Stellen mit dem θαρρείν hin, also auf die Sätze VI und XXVIII, wo es jedesmal eher um das persönliche Sicherheitsgefühl vor der Bedrohung durch andere Menschen im Sinne der Ataraxia geht. Und in der Tat gilt das auch hier. Sie erweist sich erneut als Schwerpunkt von Epikurs Philosophie. Auch der Gesellschaftsvertrag dient letztlich der persönlichen Ataraxia, er bietet nur den Rahmen, in dem sich der Epikureer einzurichten hat.

In Athen des 5. Jahrhunderts wurde die Ideologie, jeder Vollbürger habe sich politisch für seine Stadt mitverantwortlich zu betätigen, hochgehalten. Dass dem auch so war, hat bis zu einem gewissen Grade auch die alte Komödie des Aristophanes bestätigt. Aber schon Alkibiades‘ Lebensgang zeugt weniger von einer Verantwortung für die πόλις oder die κοινωνία als von eigener Machtausübung und zur Not auch eigener Sicherheit. Und bei Epikurs Zeitgenossen Menander finden wir sowieso nichts mehr von politischem Bewusstsein. Auch Demosthenes klagte, wie wir gelesen haben, über die Bequemlichkeit und Lethargie der Athener.

Zur Übersetzung des letzten Satzes ist ebenfalls eine nachträgliche Klarstellung nötig: Das καί in der drittletzten Zeile trennt zwei Haupsätze voneinander, so dass das PC ἀπολαβόντες (Aorist!) nicht mit dem kausalen ἔχοντες (Präsens!) davor unmittelbar gleichgeordnet werden kann, sondern in dem abschließenden HS eher temperal oder konditional aufgefasst werden muss. Darüber sind wir einfach hinweggegangen. Wenn wir diese Zuordnung aber genauer beachten, stützt sie unsere Auffassung, dass der Epikureer sich in bezug auf die unmittelbaren „Nachbarn“ um deren Epikureisierung kümmern müsse. Und wenn die gelungen sei, dann werde er auf den Tod des frühzeitig verstorbenen Nachbarn nicht mit Mitleid reagieren; denn dieser hat ja als nunmehr wahrer Epikureer, auch wenn er früh verstirbt, nichts von der richtig verstandenen Lust versäumt. So zeigt Satz XL nicht nur in Fortsetzung des Satzes XXXIX, wie der Epikureer mit der „Bedrohung“ durch diejenigen von außen am besten umgeht, sondern verbindet dies auch noch mit einer der Hauptlehren zum richtigen Verständnis von Lust und Lebensführung. Eine etwas gewaltsame Verbindung, wie uns schien. Doch als Schlusspunkt der κύριαι δόξαι doch auch irgendwie angemessen.

Dennoch blieben, wie schon gesagt, unsere inhaltlichen Probleme mit Epikurs individualistischer Lehre, sich herauszuhalten, sich einfach zurückzuziehen, wenn anders die Ataraxia nicht zu gewährleisten ist. Hinzu kam nun die Frage, ob denn das ἐπίφερον für die πρὸς ἀλλήλους κοινωνία wirklich als die „naturrechtliche“ Verankerung des positiven Rechts gelten kann. Holger fragte, was Epikurs Entwurf unterscheidet von dem „Gerecht ist, was dem Volk nützt“ der Nazi-Ideologie. Nun war der Volksbegriff des Nationalsozialismus alles andere als individualistisch. „Was gilt dein Glück und meines?/ Und was gilt unser Leid?/ Wir kennen nur noch eines:/ Marschtritt im Ehrenkleid.“

Aber wie wir uns das Wirken eines Gesetzgebers in Epikurs Sinne vorzustellen haben, blieb uns unklar. Hat gemäß der athenischen Ideologie die Volksversammlung mit ihren 32.000 Vollbürgern als Legislative je richtig funktioniert? Hat sie im Sinne „des Nutzens für alle“ denn auch überholte Regelungen revidieren können? Es gab in der Tat in Athen „vernünftige“ Verbesserungen der kleisthenischen Reform, wo sie sich nicht bewährte, zum Beispiel in der ursprünglichen übertriebenen Isonomie durch das Losverfahren, das dann an wichtigen Stellen durch die Wahl ersetzt wurde. Den Ostrakismus hat man abgeschafft, als er drohte groteske Blüten zu treiben. Für die Richter (und später sogar für die Besucher der Volksversammlungen) wurden die Diäten eingeführt, damit sie sich die Amtsausübung leisten konnten. Demosthenes hat es geschafft, dass die Theorika für die Rüstung herangezogen wurden.

Aber Platon hat lieber in Sizilien versucht, seine politischen Ideen umzusetzen, als in der Heimatstadt. Aristoteles hat sich vom mit Athen im Dauerstreit liegenden Philipp II. als Lehrer Alexanders anwerben lassen. Waren die Akademie und der Peripatos also grundsätzlich anders als der κῆπος? Und funktioniert unsere heutige Demokratie nicht auch vor allem als Schutz der individuellen Interessen?

Nächstes Treffen: Sonntag, 06.05.23, 10:00 Uhr

Vorbereitung dazu:

Wir legen mit den ausgesuchten Gedichten von Alkaios in der nächsten Sitzung ein kleines lyrisches Intermezzo ein. Ich werde die Gedichte noch einlesen, habe zur Zeit aber wenig Gelegenheit dazu.
Ich habe, um Zeit zu sparen,  die gegebenen Hilfen übrigens weitgehend bei Gottwein abgekupfert. Der eine Fehler, der Ulf aufgefallen ist, stammt auch von dort. Sowas kommt vor.

 

 


[1] ordne: Τὸ μὲν ἐπιμαρτυρούμενον τῶν νομισθέντων εἶναι δικαίων, ὅτι συμφέρει ἐν ταῖς χρείαις τῆς πρὸς ἀλλήλους κοινωνίας, ἔχει τὸ ἐν τοῦ δικαίου χώρᾳ εἶναι – Subjekt zu ἐχει ist τὸ ἐπιμαρτυρούμενον … εἶναι

[2] οὐκ ἀλλόφυλά γε ergänze κατεσκευάσατο