pEpikrHer3 Grundbegriffe nach Hans-Wolfgang Krautz (Reclam)

Den hochgestellten Zahlen entspricht die Nummerierung (röm. Zahlen) in pEpikrHer2 und 4.

[1] φύσις:

Ein seit den Vorsokrıtikem gebräuchlicher Schriftentitel.

φύσις (s. Nachwort, Abschn.2) bedeutet im Herodot-Brief:

  1. Eigengesetzlichkeit des Alls (82),
    1. des Seienden (45),
    2. des Leeren (44),
  2. (besondere) Gesetzmäßigkeit (z.B. der Himmelserscheinungen, 78);
  3. Element (= konstituierendes Prinzip der Körperwelt, 41),
    1. Atom (41),
    2. »unberührbares Element« (= das Leere, 40);
  4. (besonderes) Elementargebilde (z.B. Sichtbild, 48),
  5. Struktur (eines Körpers bzw. seine Merkmale),
    1. materielle Beschaffenheit (= Elementarstruktur des Atoms, 41, oder einer Atomverbindung, 65),
    2. Erscheínungsform (= sinnlich faßbarer Merkmalskοmplex, 69);
  6. (menschliche) Veranlagung (= spezifischen Umweltreizen spezifisch antwortende Leib-Seele-Struktur, 75);
  7. (göttliches) Wesen (78).

2 πραγματεία:

  1. systematische Darstellung
  2. (dargestelltes) System

3 τὰ κυριώτατα:

die „ertrangigen“ gesetzmäßigen Zusammenhänge (78)

4 τὰὅλα:

Die φύσις des Alls sind Körper und Leeres (fr 75 Us. vgl. 39). Ebenso wie 3 (beide Termini gekoppelt in 82) eine begriffliche Synthese des Gegenstandes, seiner Gesetzmäßigkeit und seiner systematischen Erklärung:

  1. All (82),
  2. φύσις des Αlls ( = τὸ πᾶν 39);
  3. umfassender (gesetzmäßiger) Erklärungsıusammenhang (36).

5 τύπος:

  1. an einem Κörper bzw. Merkmalskomplex gleichförmige, sinnlich, imaginativ oder intuitiv faßbare Modell,
    1. Sichtbild (εἴδωλον 46),
    2. Vorstellungsbild (φανατασμός, 51),
    3. Gedankenbild (ἔννοια, 69, ἐννόημα 38, πρόληψις, 72);
  2. das einen gesetzmäßigen Zusammenhang in Sätze prägende, imaginativ oder gedanklich faßbare Modell,
    1. besonderer (68),
    2. umfassendster (36, 45),
    3. systemumgreifender (35) Erklärungszusammenhang.

6 ἐπιβολή:
zentraler Terminus aus Epikurs Kanonik (s. Nachwort, Αbschn. 4) für die Erkenntnis, und zwar meist als Akt, seltener (z.B. 83) als Resultat.
Die φύσις der Gegenstandswelt (τὰ πράγματα, 36) ist in τύποι fassbar:

  1. (unmittelbarer, (38) Zugriff auf die τύποι
    1. (a)-(c);
  2. (mittelbarer, 35/36) Zugriff auf die τύποι.
    1. (a)-(c),
    1. (a) »ins Einzelne gehender«,
    2. (b) »komplexer«,
    3. (c) »entscheidendster« Zugriff.

7 ἀκρίβωμα (ἀκρίβεια, 78): bezeichnet die präzise Deckungsgleichheit zwischen Sachverhalt und Erklärung.
ἐξακριβοῦν: den τύπος (2) präzisierend in einzelne Zugriffe auflösen (= ἀναλύειν, 83).

 

8 φωνή [in der Übersetzung: „Formel“, FH]: elementare Bestimmung der φύσις (45).

 

9 ἀνάγειν: ? Us. [unklare Überleiferung bei Diogenes steht συναγομένων FH]
die methodische Umkehrung des ἐξακριβοῦν.
Terminus fiir die Rückführung auf ein κριτήριον (Urteilsinstanz, 38).
Die atomistischen Elementarsätze gelten daher mittelbar als Wahrheitskriterien.

10 φυσιολογία:

        1. induktive Erschließung (37f.) ungeklärter physikalischer Zusammenhänge anhand
          1. unmittelbarer Zugriffe,
          2. von lndizienschlüssen;
        2. systematische Erklärung der φύσις anhand mittelbarer Zugriffe (35f.),
          1. (a) Rückführen (ἀνάγειν) auf Elementarsätze,
          2. (b) exaktes Erfassen (περιλαμβάνειν) und Einprägen (μνημονεύειν) der τύποι (2),
          3. (c) präzisieren (ἀκριβοῦν), auflösen (ἀναλύειν), Ursachenzusammenhänge ableiten (αἰτιολογεῖν, 80).

Zur Zielsetzung, Reichweite und Abgrenzung von der Τatsachenerkundung« (ἱστορία, 79) vgl. 78-83.

 

11 πρῶτονἐννόημα:

das, was den Warten zugrunde liegt (37), Vor-Begriff (πρόληψις, 72);
vgl. ἔννοια (69): Gedankliches Evidenzkríterıum.

[1]2 κριτήριον, s. Nachwort, Abschn. 4.

Die (subjektiven und objektiven) Urteilsinstanzen erschließen jeweils eine »unmittelbar einleuchtende Gewißheit« (ἐνάργεια, 82):

        1. Sinnesorgan (αἰσθητήριον),
          1. Reizempfindung - Reiz (πάθος),
          2. Wahrnehmung (αἴσθησις) - Sichtbild (εἴδωλον);
        2. Verstand (διάνοια),
          1. Vorstellung (φαντασία) - Vorstellungsbíld (φάντασμα),
          2. Gedanke (ἔννοια) – Gedankenbíld (ἐννόημα).

13 Epikur klassifiziert die Gegenstände der Erkenntnis in

        1. offenbare (πρόδηλα),
          1. unmittelbar einleuchtende (= augenscheinliche, 48, bzw. evidente ἐνάργεια, 82),
          2. ihre (unmittelbare oder mittelbare) Bestätigung (ἐπιμαρτύρησις) erwartende (προσμένοντα);
        2. verborgene (= sinnlich unfassbare, ἄδηλα),
          1. nicht widerlegungsfähige (Nicht-Widerlegung = οὐκ ἀντιμαρτύρησις),
          2. prinzipiell jederzeit widerlegungsfähige (79f.).

Eine vοllständige Induktion ist nur von Klasse (1) (a) auf Klasse (2) (a) möglich.

Beipiele:

(1) (b) Ob ein aus der Feme nur undeutlich sichtbarer Turm rund oder viereckig ist, läßt sich entweder unmittelbar durch nähere Beobachtung oder mittelbar durch das Indiz (σημεῖον) der Senneneinstrahlung feststellen. Letzte Gewißheit gewährt nur der unmittelbare Augenschein.

(2) (a) Die Existenz des Leeren ist ınduktiv nicht widerlegbar (39f.).

(2) (b) Da die Himmelsetscheinungen für die Urteilsinstanzen nicht oder nur ungenau faßbar sind, gibt es über sie nur Hypothesen bzw. vorläufig geltende Analogieschlüsse (80).

Epikur beansprucht, die entscheidendsten Gesetzmäßigkeiten des Universums systematisch zu erklären, muß aber darauf verzichten, verborgene Gesetzmäßigkeiten besonderer Phänomene unseres Kosmos im einzelnen definitiv bestimmen zu können.