l37 Übersetzung von Friedrich Schleiermacher
Sokrates: Wohl wahr! Aber warum doch bist du so früh gekommen?
Kriton: Um dir eine traurige Botschaft zu bringen, Sokrates. Nicht dir, wie ich wohl sehe, aber mir und allen deinen Freunden traurig und schwer, und die ich, wie mich dünkt, ganz besonders am schwersten ertragen werde.
Sokrates: Was doch für eine? Ist etwa das Schiff aus Delos zurückgekommen, nach dessen Ankunft ich sterben soll? [d]
Kriton: Noch ist es zwar niht hier, aber ich glaube doch, es wird heute kommen, nach dem, was einige von Sunion Gekommene berichten, die es dort verlassen haben. Aus dieser Nachricht nun ergibt sich, dass es heute kommt und dass du also morgen dein Leben wirst beschließen müssen.
Sokrates: Also, o Kriton, Glück auf! Wenn es den Göttern so genehm ist, sei es so! Jedoch glaube ich nicht, dass es heute kommt.
Kriton: [44a] Woher vermutest du das?
Sokrates: Das will ich dir sagen. Ich soll doch an dem folgenden Tage sterben, nachdem das Schiff gekommen ist.
Kriton: So sagen wenigstens die, die darüber zu gebieten haben.
Sokrates: Daher glaube ich nun nicht, dass es an dem jetzt anbrechenden Tage kommen wird, sondern erst an dem nächsten. Ich schließe das aber aus einem Traume, den ich vor einer kleinen Weile in dieser Nacht gesehen habe, und beinahe mag es sich recht gelegen gefügt haben, dass du mich nicht aufgeweckt hast.
Kriton: Und was träumte dir?
Sokrates: Es kam mir vor, als ob eine schöne, wohlgestaltete Frau mit weißen Kleidern angetan auf mich zukam, [b] mich anrief und mir sagte: »O Sokrates, möchtst du am dritten Tag in die schollige Phthia gelangen«
Kriton: Welch ein sonderbarer Traum, o Sokrates!
Sokrates: Deutlich gewiß, wie mich dünkt, o Kriton!
Kriton: Gar sehr, wie es scheint. Aber du wunderlicher Sokrates, auch jetzt noch folge mir und rette dich. Denn für mich ist es nicht ein Unglück, wenn du stirbst: sondern außerdem, dass ich eines solchen Freundes beraubt werde, wie ich nie wieder einen finden kann, werden auch viele glauben, die mich und dich nicht genau kennen, [44c] daß, ob ich schon imstande gewesen wäre, dich zu retten, wenn ich einiges Geld aufwenden gewollt, ich es doch verabsäumt hätte. Und was für einen schlechteren Ruf könnte es wohl geben, als dafür angesehen sein, dass man das Geld höher achte als die Freunde? Denn das werden die Leute nicht glauben, dass du selbst nicht weggehn gewollt habest, wiewohl wir alles dazu getan.
Sokrates: Aber du guter Kriton, was soll uns doch die Meinung der Leute so sehr kümmern? Denn die Besseren, auf welche es eher lohnt, Bedacht zu nehmen, werden schon glauben, es sei so gegangen, wie es gegangen ist.
Kriton: [d] Aber du siehst doch nun, Sokrates, dass es nötig ist, auch um der Leute Meinung sich zu kümmern. Eben das Gegenwärtige zeigt ja genug, dass die Leute wohl vermögen, nicht das kleinste Übel nur zuzufügen, sondern wohl das größte, wenn jemand bei ihnen verleumdet ist.
Sokrates: Möchten sie nur, o Kriton, das größte Übel zuzufügen vermögen, damit sie auch das größte Gut vermöchten! Das wäre ja vortrefflich! Nun aber vermögen sie keines von beiden. Denn weder vernünftig noch unvernünftig können sie machen; sondern sie machen nur, was sich eben trifft.