Alfred Heuß, aus: Propyläen-Weltgeschichte III, 1 - 1976
Das große Spiel um Hellas
Der märchenhafte Aufstieg Makedoniens unter Philipp machte gewiß aus Makedonien
keinen integrierenden Bestandteil Griechenlands. Die Arbeit von Generationen ist nicht
durch den Elan von ein bis zwei Jahrzehnten zu ersetzen. Zudem war es Philipp auch gar
nicht um die Hebung des zivilisatorischen Niveaus zu tun. In dieser Hinsicht war er mehr
konservativ als »fortschrittlich« gesonnen. Makedonien sollte nicht kraft einer ihm auf-
gedrungenen Modernität stark sein, sondern auf Grund der Möglichkeiten, die ihm seine
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ungriechische Struktur verlieh. Aber gerade sie schufen im Verhältnis zu dem desolaten
Zustand Griechenlands eine Überlegenheit, welche dem aufmerksamen Beobachter Angst
einflößen konnte. Die Kombination einer Kriegsmaschine, die in ganz Griechenland ihres-
gleichen suchte, mit einer genialen militärischen und politischen Führung, die unbeschränkt
über ein solches Potential verfügte, bedeutete eine Konstellation, wie sie die griechische
Geschichte noch nicht gekannt hatte. Es lag nahe, in ihrem Angesicht die Waffen zu strecken.
Und trotzdem war es nicht zu verkennen, daß dies alles mit dem einen Mann stand
und fiel, daß die gewaltige Machtanhäufung mehr improvisiert als organisiert war und die
hypertrophe Herrschaftsbildung nicht ohne beträchtliche innere Spannungen bleiben
konnte.
Solch souveräne Beurteilung war allerdings im damaligen Griechenland nicht selbst-
verständlich und ermangelte auch der notwendigen Voraussetzungen. Das politische Leben
war heruntergekommenen; Sparta, einst Repräsentantin griechischer Außenpolitik, gestürzt,
Theben, die Rivalin, schließlich auch nicht über das Maß eines achtbaren Mittelstaaten
hinausgekommen, und dann die vielen kleineren Staaten, freigesetzt durch die Auflösung
der spartanischen Hegemonie, was sollten sie an politischer Tradition mitbringen? In ihren
Kreis moralisch einzubrechen war für Philipp ein leichtes, der mit Bestechungsgeldern
nicht sparte und obendrein seine persönliche Faszination einzusetzen wußte. Eine makedonische
Partei, die es am Ende fast überall (außer in Sparta) gab, hatte bei ihm bequemes
Spiel. Wenn in dem morschen Gestein von Griechenlands politischer Landschaft ein etwas
festerer und stattlicherer Fels zu erblicken war, dann konnte das allein noch Athen sein.
Aber wir vermöchten dies kaum zu sagen, wenn sich diese Möglichkeit nicht in der eindrucksvollen
Gestalt des Demosthenes inkarniert hätte. Demosthenes wurde so zum einzigen
ernsthaften Gegner, den Philipp in der griechischen Welt fand.
Demosthenes' Konzeption verriet schon durch ihre durchsichtige Einfachheit das Format:
zwangsläufig führt der ständige Machtzuwachs Philipps zu seiner Oberherrschaft
über Griechenland und damit zum Verlust der Selbständigkeit auch Athens. Also gebietet
schon der Selbsterhaltungstrieb eine Politik des Widerstandes nicht nur, sondern auch des
Angriffs. Ist sie erfolgreich und muß Philipp weichen, dann rückt derjenige Staat, dem
dieser Schlag gelingt, von selbst an die erste Stelle von Hellas. Demosthenes hatte erkannt,
daß die damalige politische Situation ein Junktim von Beharrung und höchst zukunfts-
trächtiger Chance in sich schloß; und sofern man sich nicht den Blick durch den Erfolg
blenden läßt, wird man ehrlicherweise dieser Erkenntnis nicht die Berechtigung absprechen.
Sieg durch Behauptung ist noch immer in der Weltgeschichte das sicherste Unterpfand
einer großen Zukunft gewesen. Gerade Athen hatte einst diese Erfahrung am eigenen
Leibe gemacht. Salamis und Plataiai hatten zum Attischen Seebund geführt. Damals hatte
er sich mit Sparta in den Triumph und Erfolg teilen müssen. Jetzt wäre im Falle des Gelingens
kein Dualismus zu befürchten gewesen.
Allerdings lebte Demosthenes nicht in der Zeit des Perikles und Thukydides, so daß er
solche Kalkulationen hätte leichthin der Öffentlichkeit preisgeben können. Es bedurfte
einer gewissermaßen idealen Atmosphäre, um einer solchen Politik die nötige Suggestiv-
kraft zu verleihen. Die Elemente dazu lagen in der Luft. Von den Literaten, zumal von
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Isokrates, war zur Genüge die Erinnerung an den hellenischen Freiheitskampf gegen die
Perser beschworen worden. Demosthenes brauchte den barbarischen Gegner nur auszutauschen
und an seine Stelle den Makedonenkönig zu setzen »Barbar« war der eine wie
der andere -, dann war seine Politik auf ein Niveau höherer Verbindlichkeit hinaufgespielt
und ihr dasjenige Pathos zugänglich gemacht, dessen es zur Überwindung der Trägheit des
Herzens und der Seele bedurfte. Die »Wahrheit« des Gedankens brauchte darunter nicht
zu leiden, denn der Panhellenismus« in seiner ursprünglichen Form war seiner praktischen
Verbindlichkeit nach ohne jede Durchschlagskraft, aus dem einfachen Grund, weil der
Perserkönig nicht nur zum ungefährlichen Gegner geworden war, sondern weil mit Recht
gefragt werden durfte, ob er überhaupt als Gegner noch zähle. In Philipp dagegen trat ein
Feind auf, der Griechenland tatsächlich auf den Leib rückte und dessen Bedrohlichkeit
sich nicht aus literarischen Reminiszenzen ergab, sondern sich offen darbot - vorausgesetzt
freilich, daß sie einmal entlarvt war. Demosthenes' heißes Bemühen galt dieser Entlarvung,
eine bedeutende publizistische Leistung, welche mit dazu beitrug, aus Demosthenes auch
eine literarische Größe für die Nachwelt zu machen.
Allerdings war für das Altertum Demosthenes nicht primär wegen der inhaltlichen
Thematik eine literarische Erscheinung hohen Ranges. Man tut gut, sich dessen zu erinnern,
denn die Hochschätzung, welche Demosthenes in der rhetorischen Kritik bereits
im 3. Jahrhundert fand und die ihm bis zum Anfang der römischen Kaiserzeit in progressiver
Steigerung endlich den ersten Platz unter allen griechischen Rednern zuwies, bezog sich
in erster Linie auf formale Qualitäten. Sie war freilich auch da berechtigt: Demosthenes
errang neben Isokrates nicht nur eine überzeugende Eigenständigkeit, sondern er verstand
es auch, der Intensität seines Wesens in der Rede einen gültigen Ausdruck zu verleihen.
Demosthenes überläßt die Rede nicht einfach den Worten und der Tragkraft ihrer Gedanken,
wie dies Isokrates tut und in seiner Nachfolge später Cicero tun sollte, sondern er unter-
stellt sie der Wucht eines konkreten Überzeugungswillens, der stets ein leibhaftiges Gegen-
über hat und mit diesem unter Aufbietung des gesamten tätigen Verstandes ringt. Deshalb
ist Demosthenes zumeist ganz konzentriert. Die kürzeste und prägnanteste Ausdrucksweise
ist sein Ziel, eine Abfolge dichter Sätze ohne Luftblasen. Er mutet dem Hörer ein gehöriges
Maß von Spannkraft zu, und es ist für beide Teile kein schlechtes Zeichen, daß auf diese
nicht eben bequeme Art ein dichter Kontakt zustande kam, wie man ihn dem geschichtlichen
Ergebnis seines Wirkens entnehmen muß.
Die Fähigkeit, seinem Wollen und Denken diese suggestive Form zu geben, war Demosthenes
nicht in die Wiege gelegt. Er hat es in der Jugend schwer gehabt, schon den äußeren
Umständen nach. 384 geboren, verlor er mit sieben Jahren den Vater und kam unter die
Vormundschaft dreier Verwandter. Sie veruntreuten das nicht unbeträchtliche Vermögen.
Der Vater war ein reicher Rüstungsfabrikant gewesen und hatte Schwerter hergestellt.
Nach Erreichung der Volljährigkeit (366) wandte Demosthenes seine erste rhetorische
Schulung (bei dem Redner Isaios) im Prozeß gegen die betrügerischen Vormünder an. Es
gelang ihm auch, diesen den Hauptteil des Raubes wieder abzujagen. Da er als Sachwalter
sein Vermögen dazu noch aus dem Verdienst eigener Tätigkeit vermehrte, war er wieder ein
reicher Mann und damit in den Stand gesetzt, es auch für politische Zwecke einzusetzen.
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Sein Selbststudium war eine außerordentliche Energieleistung, denn sein Talent war
durch verschiedene Gebrechen überlagert: sein Atem war zu kurz, die Stimme zu dünn, und
die Bewegungen waren häßlich. Nur durch ein asketisches Training wurde er dieser Fehler
Herr. Als er das geschafft hatte, konnte er allerdings auch mehr als andere. Er hatte sich
derartig in der Gewalt, daß auch die unwillkürlichen Äußerungen einem bewußten Kommando
gehorchten, so Haltung und Gestus beim Vortrag und die Mannigfaltigkeit des
Tonfalls.
Als Demosthenes mit dreißig Jahren das Alter zur öffentlichen Wirksamkeit erreicht hatte,
war die politische Lage alles andere als günstig für den Ansatz einer politischen Linie, wie
sie ihm sehr bald vorschwebte. Man kann ruhig sagen, die Umstände verneinten geradeswegs
seine politische Laufbahn, und in gewissem Sinne ist dies sehr lange so geblieben.
Demosthenes mußte meist gegen den Strom schwimmen, und wenn er Erfolg hatte, dann
war das in der Regel die Frucht eigenen Bemühens.
Der Ausgang des Bundesgenossenkrieges, dessen Wurzel der optimistische Glaube gewesen war,
es ließe sich das alte Attische Reich wiedererrichten, und der mit dem Verlust
so mancher wichtiger Bundesgenossen geendet hatte, so daß der zweite Attische Seebund
kaum noch als existent betrachtet werden konnte, hatte (355/354) in Athen eine tiefe Resignation
verbreitet. Man wurde an sich selbst irre und verurteilte nicht nur die expansive
Politik der letzten Jahre, sondern zweifelte sogar an der traditionellen attischen Demokratie.
Isokrates, der einst das demokratische Athen des Perikles gepriesen und in Schutz genommen hatte,
erging sich in Vorschlägen, die auf eine glatte Restauration im Zeichen einer
Wiederherstellung der alten Macht des Areopags hinausliefen. Nichts war jetzt so verpönt
wie eine expansive und kostspielige Politik. Nach Frieden um jeden Preis und Genuß des
Friedens stand jetzt der Sinn. Der Repräsentant dieser Richtung war Eubulos, seines
Amtes bezeichnenderweise Generalbevollmächtigter für das Finanzwesen und in dieser
Eigenschaft ein untadeliger und einfallsreicher Beamter. Eubulos dachte verständlicher-
weise nicht daran, an der hergebrachten Demokratie etwas zu ändern, aber er sorgte dafür,
daß innerhalb ihres Gehäuses die vermögenden Schichten zum Zuge kamen. Dazu war
freilich nötig, die Ärmeren in großzügiger Weise abzufinden. Zu diesem Zweck wurden
beträchtliche Soziallasten in Form einer reichlichen Bemessung von Staatsmitteln für
den Besuch der Schauspiele an den großen Festen vergütet. Die Kasse hierfür, das Theorikón, wurde der Kern der attischen Finanzverwaltung, und im Laufe der nächsten
Jahre kam es dazu, daß diese Kasse mit ihrem Verwendungszweck gleichsam zum Tabu
erklärt und bei Androhung der Todesstrafe jeder andere Verwendungszweck verboten
wurde. Demosthenes war diese Gesinnung gewiß nicht sympathisch, aber gegen sie an-
zugehen hätte politischen Selbstmord bedeutet. So paßte er ihr sich an und trat sogar selbst
mit Vorschlägen hervor, wie man die Steuereinziehung bei den Reichen wirksamer
gestalten könne (in der »Symmorienrede« von 354).
In der Tat wirkte sich die Finanzpolitik des Eubulos keineswegs nur als parasitärer Ver-
schleiß aus. Es wuchsen auch die Arsenale und ebenso die Zahl der Kriegsschiffe. Demosthenes wäre an sich der aufopfernde Stil der radikalen Demokratie des 5. Jahrhunderts
lieber gewesen, und er selbst tat alles, um diesen Geist durch die Provokation der
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entsprechenden außenpolitischen Situation wieder zum Leben zu erwecken; aber die Vorteile
der Finanzpolitik des Eubulos sah auch er ein, und so wirkten beide Männer trotz der
inneren Gegensätzlichkeit lange nebeneinander, auch dann, als das Schwergewicht
eindeutig auf die Seite des Demosthenes fiel.
Bis dahin hatte es allerdings noch eine gute Weile. Es deutet zwar einiges daraufhin, daß
Demosthenes die Gefährlichkeit Philipps schon sehr früh erkannte. Bereits 351 tat er beiläufig
die öffentliche Äußerung, vor dem Perserkönig hätte man sich im Grunde weniger
zu fürchten als vor Philipp. Damit aber solche Erkenntnisse ernst genommen wurden, bedurfte
es drastischer Ereignisse, und bei dem atemberaubenden Tempo Philipps ließen die
nun wahrlich nicht allzulange auf sich warten. Fünf Jahre nachdem Demosthenes die
politische Bühne betreten und dabei einen anderen Grundsatz seiner Politik eingeschärft
hatte mit der Doktrin, daß Theben vor Sparta als Bundesgenosse Athens in Betracht komme,
eröffnete Philipp seine Angriffe auf Olynthos. Obgleich Athen in vergangenen Jahren viel
Ärger durch Olynthos gehabt hatte, setzte sich doch bei vielen die Erkenntnis durch, daß
hier vitale eigene Interessen auf dem Spiele ständen. So hatte Demosthenes das Glück, bei
seinen berühmten Olynthischen Reden (349) die öffentliche Meinung hinter sich zu haben.
Weniger glücklich war er, als nach der überraschenden Einnahme der Stadt (348) das Weitere
eine Frage der Politik an Stelle der militärischen Auseinandersetzung geworden war.
Demosthenes' Absicht ging dahin, die schlimmen Folgen des Verlustes von Olynthos wenigstens
politisch aufzufangen und Philipp den Zugang nach Griechenland zu versperren.
Auch damit stand er nicht allein.
Der Plan, in Griechenland eine Koalition gegen Philipp auf die Beine zu bringen, wurde
auch von anderen geteilt, selbst von seinem (späteren) Gegner Aischines. Doch er scheiterte.
Statt dessen streckte nun Philipp Friedensfühler aus, und die Idee, ihn im Anschluß hieran
in Führung zu nehmen und diplomatisch zu erreichen, wozu es militärisch-politisch nicht
gereicht hatte, schien nicht ganz absurd. Zwei Jahre hindurch zogen sich die Verhandlungen hin,
die wechselseitig sowohl bei Philipp in Makedonien wie in Athen geführt wurden.
Demosthenes nahm persönlich an ihnen teil, machte aber keine besonders glückliche Figur.
Dafür gelang es Philipps überlegenem Wesen, ausgerechnet bei dieser Gelegenheit, da er
an die Kette gelegt werden sollte, sich Freunde in Athen zu erwerben, die hinfort in Athen
einen offenen promakedonischen Kurs vertraten. Ihr Haupt wurde der Redner Aischines,
den seit dem eine Todfeindschaft von Demosthenes trennte. Den schlauen Anschlag, den
Friedensschluß auf die Grundlage eines Friedensgenossenschaftspaktes (eines »Allgemeinen
Friedens«) zu stellen und damit gegen jede künftige Expansion Philipps eine Exekution
durch das gesamte Griechenland aufzurufen, durchschaute selbstverständlich Philipp und
brachte ihn mit leichter Eleganz zu Fall. Philipps gerissene Taktik, während der Verhandlungen
den Gegner in einem fort vor vollendete Tatsachen zu stellen, machte den Friedensschluß von
346 (den »Frieden des Philokrates«, eines makedonenfreundlichen Atheners)
zu einer ziemlich kläglichen Niederlage Athens. Athen vermochte nicht zu verhindern,
daß auch die Phoker, seine Freunde, vernichtet wurden. Noch böser war die Konsequenz:
Philipp erhielt in der delphischen Amphiktyonie in Nachfolge der Phoker Sitz und
Stimme und hatte damit eine legitime Position in Mittelgriechenland. Das Tor nach
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Griechenland war aufgebrochen. All das vermochte Athen nicht zu verhindern. Offiziell,
das heißt nach dem Vertragstext, war Philipp »Freund und Bundesgenosse der Athener«.
Es fehlte nicht viel, und Athen hätte sich an der Exekution gegen die Phoker beteiligen
müssen. Ein gefühlsbestimmter Rückschlag gegen eine solche Demütigung - er äußerte
sich in der Schmollgeste, die Pythien nicht zu besuchen - mußte sogar von Demosthenes
neutralisiert werden, um einen kriegerischen Zusammenstoß mit Philipp zu vermeiden. Er
hielt eine Rede über den Frieden (346) und besiegelte damit in eigener Person sein Unvermögen,
die attische Politik vor diesem Tiefstand zu bewahren.
Von nun an war Demosthenes' Trachten darauf gerichtet, Athen nicht mehr vom Gegner
überrollen zu lassen. Das fruchtlose Beginnen, hilflos auf die Tatsachen zu reagieren, die
der andere schuf, sollte aufhören. Die Aufgabe bestand jetzt darin, dem Feind das Gesetz
des Handelns vorzuschreiben. Aber auch hierzu war die Anlaufstrecke weiter, als es sich
Demosthenes wahrscheinlich vorgestellt hatte. Die Hauptsache war zunächst die Planierung
des innerathenischen Terrains. Aischines und seine Makedonenfreunde mußten
weichen. Der erste Versuch (346/345), es dahin zu bringen, schlug fehl. Demosthenes verlor
den Prozeßkrieg und stand erst einmal blamiert da. Drei Jahre später schloß sich die Fortsetzung
an strafrechtlicher Gegenstand war die Bestechung, deren sich Aischines bei den
Verhandlungen nach 348 schuldig gemacht haben sollte -, und dieses Mal konnte sich
Demosthenes als Sieger betrachten: Aischines wurde nur mit knapper Mehrheit frei-
gesprochen und war damit politisch ein toter Mann. Sein Freund Philokrates, der auch an-
geklagt war, hatte es erst gar nicht so weit kommen lassen und sich einer möglichen
Verurteilung schon vorher durch Flucht entzogen.
Dem innerpolitischen Sieg stand freilich kein außenpolitischer zur Seite. Anfang 345
unternahm Philipp eine diplomatische Offensive zum Zwecke der Herstellung besserer
Beziehungen zu Athen. Er kam damit nicht zum Ziele, ebensowenig aber auch Demosthenes,
der das Entgegenkommen Philipps dazu ausnutzen wollte, ihm die allgemein griechische
Friedensgarantie aufzudrängen. Demosthenes wollte sich diesen Gewinn sogar die
Abweisung einer persischen Gesandtschaft kosten lassen, die Philipp ein Dorn im Auge war.
Sie zog auch unverrichteterdinge weiter, aber die Gegengabe brachte der attische Ge-
sandte Hegesippos von Makedonien nicht nach Hause. Etwa in der gleichen Zeit ermahnte
Demosthenes seine Mitbürger in der zweiten gegen Philipp gehaltenen Rede, nicht preis-
zugeben, was für alle Griechen Rechtens sei, und nicht ohne jeden Gewinn und Nutzen auf
ihre gute Gesinnung allen Hellenen gegenüber zu verzichten. Solche Töne wurden jetzt
deutlicher und bezeichneten das Bemühen des Demosthenes, in der griechischen Öffentlichkeit
einen Widerhall für seine antiphilippische Politik zu finden. Philipp, aufs genaueste
durch seine Gewährsleute davon unterrichtet, was in Griechenland vorging, merkte wohl,
daß ein härterer Wille sich Athens bemächtigte, und hätte, zumal nach der Niederlage des
Aischines, gern eingelenkt. An seiner Ostgrenze (gegen die Thraker) zur Genüge engagiert,
lag ihm gar nichts an einem gespannten Verhältnis zu Griechenland. Aber Demosthenes
ließ es jetzt, da er das Steuer in der eigenen Hand hielt, zu keinem Kompromiß mehr
kommen. Sein Ziel, auf das er seit seinem Sieg über Aischines geradeswegs losging, war der
unwiderrufliche Bruch mit Philipp. Die großzügigsten Angebote Philipps wußte er den
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Athenern auszureden. Was Athen noch ein Jahr zuvor dringend gewünscht hatte, die Erweiterung
des Philokratesfriedens zu einer Friedensgenossenschaft und die Rückgabe der
kleinen nordägäischen Insel Halonnesos, wurde jetzt von Demosthenes unter Aufwendung
reiner Rabulistik ausgeschlagen. Der Völkerrechtsbruch eines athenischen Strategen (Diopeithes)
kam ihm gelegen genug, um ihn durch Athen decken zu lassen. Die Zeit für die
feinen diplomatischen Schachzüge war vorbei. Kein Finessieren mehr, sondern klare Fronten,
das war jetzt (seit 342) das Ziel des Demosthenes. Die »Dritte Philippische Rede« (341)
gab die ideologische Instrumentierung dazu ab. Sie richtete sich an alle Hellenen, obwohl
sie in Athen gehalten worden war, und enthielt den Appell, sich zum Kampf zusammenzufinden.
Anklage und Aufruf verschmelzen zu einem schrillen Fanal: Ȇber Philipp und
sein jetziges Treiben empört sich niemand, obgleich er kein Hellene noch ihnen verwandt
ist, sondern ein Barbar des verworfensten Gelichters, ein nichtswürdiger Makedone.«
Demosthenes hatte sich selbst auf die Reise gemacht, um die griechischen Staaten an
Athen zu binden. Quer durch die nördliche Peloponnes bis zu den Akarnanen und den
Inseln im Westen wurde so die Grundlage für einen Damm gegen die anschwellende
makedonische Flut geschaffen (342). Euboia, bereits ein Ableger der makedonischen Herrschaft,
wurde aus ihr wieder herausgebrochen. Byzantion und Abydos, ein Annex des von Philipp
unterworfenen Thrakiens, wurden durch Bündnis an Athen angeschlossen. Das gleiche geschah
mit den großen Inseln Chios und Rhodos. Ein großer Teil der neuen Bundesverhältnisse
wurde als feste Vereinigung organisiert mit Bundesversammlung (synhédrion) und
Matrikularbeiträgen. Wer nicht dabei war, wie Sparta, Argos, Messenien und Elis, beobachtete
wohlwollende Neutralität. Die Einsetzung des Schlußsteins in dieses Bündnissystem war von
langer Hand vorbereitet: Thebens Beitritt.
Philipp hatte in den vergangenen Jahren immer wieder versucht, unter Benutzung des
alten Antagonismus Theben gegen Athen auszuspielen. Er hatte ursprünglich ein gutes
Verhältnis zu Theben wegen der gemeinsamen Feindschaft zu den Phokern. Als es sich nach
deren Vernichtung lockerte, wollte er Athen an dessen Stelle treten lassen. Aber Demosthenes
wußte zu verhindern, daß es in die Falle ging. Seine Weitsicht sollte allerdings erst
Früchte tragen, als der Kulminationspunkt schon erreicht war.
Zum erstenmal seit drei Generationen wehte wieder ein großer Atem durch die griechische
Politik, auch mit den emotionalen Begleiterscheinungen. Bei den Olympischen Spielen
wurde Philipp ausgezischt. In Athen machte der Geist bürgerlicher Selbstgenügsamkeit,
der die Geschichte des 4. Jahrhunderts meistens beherrscht hatte, einem demokratischen
Fanatismus Platz, der an bestimmte Phasen des Peloponnesischen Krieges erinnerte. Der
Einpeitscher war Demosthenes. Er schreckte vor Terrorisierung des widerstrebenden
Besitzbürgertums nicht zurück. Was an Kräften auf dem Grunde des attischen Staates lag
- er war immer noch der bedeutendste von Hellas -, wurde rücksichtslos nach oben getrieben,
um die letzte Gelegenheit, wieder Großmacht zu werden, zur Wirklichkeit zu
erheben und mit einem Schlag das Absinken Athens seit dem Ausgang des Peloponnesischen
Krieges aufzuholen.
Die Entscheidung fiel allerdings anders aus. Dabei ließ sich der Krieg, der 340 ausbrach,
für Athen gar nicht schlecht an. Er begann damit, daß Philipp die Ostflanke Thrakiens,
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an der Athen durch das Bündnis mit Byzantion (und damit auch mit dem befreundeten
Perinthos) Fuß gefaßt hatte, wieder freikämpfen wollte. Er führte dazu eine großangelegte
Land- und Seeoperation durch (Makedonien besaß seit einiger Zeit eine Flotte). Trotzdem
wurde sie zur klaren Niederlage und zugleich zum ersten ernsthaften Rückschlag, den
Philipp jemals erlebte. Philipps Flotte wurde von den Athenern aus dem Marmarameer
in den Pontos (Schwarzes Meer) abgedrängt, und die Belagerung der beiden Städte, die
Philipp auf das energischste betrieb, mußte abgebrochen werden. Dem hartnäckigen Wider-
stand war er nicht gewachsen. Seine Lage in Thrakien wurde durch diesen Prestigeverlust
derartig peinlich, daß er zunächst den Kampf gegen Athen, das ihm während dieser Ereignisse
in aller Form den Krieg erklärt hatte, sistierte und damit dem Gegner ganz gegen
seine Gewohnheit Zeit zu weiterer Konsolidierung einräumte. Philipp zog nördlich in die
Dobrudscha, um einen skythischen König Ateas zur Räson zu bringen und damit den
benachbarten Thrakern die Lust zu nehmen, sich gegen ihn zu erheben. Auf dem Rückweg
- Ateas hatte Herrschaft und Leben eingebüßt - geriet Philipp in einen gefährlichen Konflikt
mit den Thrakern und wurde bei den Kämpfen lebensgefährlich verwundet. Von ferne
durfte man den Eindruck haben, daß Philipp zunächst festgelegt und von ihm fürs erste
nichts zu befürchten sei.
Es stellte sich bald heraus, daß das ein Irrtum war. Aber er war nicht die eigentliche
Ursache des Verhängnisses. Es trat vielmehr - und dies in geradezu peinlicher Weise - zu-
tage, daß Athen, ungeachtet seiner politischen Vorbereitungen, die Dinge in Zentralgriechenland
doch nicht recht in der Hand hatte. Da ergaben sich die merkwürdigsten
Verwicklungen, deren Schilderung leider dem Leser vorenthalten werden muß. An deren
Ende stand dann ein »Heiliger Krieg« gegen die Lokrer von Amphissa, weil diese die Delphi
gehörende Markung von Krisa in Besitz genommen hatten. Der Fall selbst war unerheblich.
Erheblicher war, daß - übrigens aus gutem Grund - Athen Amphissa deckte
und daß schließlich die Amphiktyonen Philipp mit der Exekution betrauten. Damit hatte
er von einer gemeingriechischen Instanz die förmliche Einladung zum Betreten Griechenlands
erhalten und brauchte nicht einmal zur Durchführung seines Krieges mit Athen
gewaltsam die Tür aufzubrechen. Athen vermochte diese geradezu abenteuerliche Wendung, an der
neben viel Unverstand auch der Einfluß promakedonischer Kreise - wenigstens mittelbar -
schuld hatte, nicht zu verhindern. Immerhin brachte sie ihm den Vorteil
einer Annäherung an Theben, das sich desgleichen vor Amphissa stellte. Im übrigen maß
man in Athen (und wohl auch anderswo) dem Appell an Philipp keine unmittelbar praktische Bedeutung zu, da es schon spät im Jahr war und Philipp an sein Krankenlager gefesselt schien. Wie eine Bombe schlug deshalb in Athen die Nachricht ein, daß Philipp mit
seinem Heer im phokischen Elateia stehe, nicht weit von der boiotischen Grenze entfernt
und offenbar zum Sprung auf Athen ansetzend. Von dem Schreck und der Erwartung, den
Feind in den nächsten Tagen vor den eigenen Mauern zu sehen, gab Demosthenes später
eine berühmte Schilderung, die in der Feststellung gipfelte, daß er als einziger damals nicht
den Kopf verlor. Und nicht nur dies: aus der Tiefe der Niedergeschlagenheit führte Demosthenes Athen und seine eigene Politik auf die Höhe seines größten diplomatischen Triumphes. Philipp hatte nämlich den Vorstoß unternommen, ohne Theben gewonnen zu
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haben, und versuchte erst jetzt, Theben auf seine Seite zu ziehen. Dasselbe tat aber
auch Demosthenes, der als Gesandter Athens mit den Abgeordneten Philipps in Theben
zusammentraf. Und er gewann das Spiel. Theben schloß mit Athen ab, und damit standen
die stärksten Kräfte Griechenlands Schulter an Schulter gegen Philipp. Einer solchen
massiven Zusammenballung von Widerstand war er noch nie begegnet. Politisch war ihm
nicht mehr beizukommen. Es blieb nur noch die militärische Entscheidung.
Sie fiel auf dem Schlachtfeld von Chaironeia (in Boiotien) am 1. September 338 v. Chr.
Den Weg zu ihr hatten Philipp einige schlimme strategische Fehler der Alliierten gebahnt.
Doch seine höchste Überlegenheit trat in der Schlacht selbst zutage, zweifellos die größte
militärische Leistung seiner glanzvollen Laufbahn. Das Rezept stammte von Epameinondas.
Den eigenen Flügel hielt Philipp zurück und ließ ihn sogar vor dem Feinde weichen.
Das war da, wo er persönlich gegen die Athener kämpfte. Der andere, verstärkte Flügel
- es war der linke - wurde auf den rechten Flügel des Gegners, die kampferprobten Thebaner,
darunter die Elitetruppe der »Heiligen Schar«, losgelassen. Ihn führte der achtzehn-
jährige Kronprinz Alexander, und er erfüllte die hohen Erwartungen, die in ihn gesetzt
waren. Nach zähem Kampf wurde der Feind von ihm geworfen, und anschließend wurden
die auf ihrem Sektor siegreichen Athener im Rücken genommen. Die Schlacht war gewonnen.
Ob es deswegen auch der Krieg war, brauchte noch nicht entschieden zu sein. Philipp
war klug genug, das einzusehen, und unterstellte wie immer die militärische Operation dem
Gesetz der politischen Vernunft. Weiterkämpfen hätte die Belagerung von Theben und Athen
bedeutet und wäre voller Unsicherheitsfaktoren gewesen. Perinthos und Byzantion hatten
ihm eine teure Lektion erteilt. In Athen rüstete man für diesen ursprünglich erwarteten
Fall mit festem und entschlossenem Sinn, bereit, die Elementarkräfte der Verzweiflung zu
mobilisieren. Da Philipp Athen zur See nichts anhaben konnte, lag hierin tatsächlich die
nicht ganz unwahrscheinliche Möglichkeit der Behauptung. Chaironeia wäre dann um-
sonst gewesen. Deshalb fielen Philipps Forderungen ganz unerwartet mild aus. Athen hatte
im Grunde nur auf die Aspirationen zu verzichten, die es in diesen Krieg geführt hatten.
Sein bisheriger Besitzstand blieb ihm (im großen ganzen) erhalten. Für jene das Letzte zu
riskieren, war nicht seine Sache. Selbst Demosthenes mutete ihm das nicht zu. Wahrscheinlich
handelten Athen und auch die anderen Griechen damals sachgemäß und wirklichkeits-
getreu, indem sie zugaben, daß die ganze Erhebung dieses Kampfes auf die Ebene der
nationalen Existenz des Hellenentums nichts als Ideologie war. Sie hörten freilich damit
nicht auf, sich an ihr zu delektieren und der Vergangenheit daraus einen Kranz zu Winden.
In einem Epigramm auf die Gefallenen von Chaironeia wird ihnen bezeugt, sie seien um
der Hellenen willen verblutet, damit diese nicht, dem Joch sich beugend, das Verbrechen
der Sklaverei ertrügen; und ein anderes bescheinigte ihnen, sie hätten hellenisches Land
schützen wollen, Acht Jahre später, als die ganze Welt ein anderes Aussehen gewonnen
hatte und der Krieg von 333 nun wirklich, wenigstens für unser Empfinden, Vergangenheit
geworden war, ereiferten sich Demosthenes und sein Gegner Aischines (325) öffentlich über die
Politik, die zu Chaironeia geführt hatte, und jener sprach von der »nationalen« Gloriole
dieses Kampfes.
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Philipp besaß für die Organisation seiner Herrschaft eine klare und bezeichnende Konzeption.
Es kam ihm nicht darauf an, die Faust des Siegers in ihrer möglichen Schwere
fühlen zu lassen, obgleich er über eine Macht verfügte, wie sie Griechenland noch niemals
in seiner Geschichte erlebt hatte. Es war ihm gleichgültig, daß Sparta sich weigerte, seine
Suprematie anzuerkennen, und deshalb verzichtete er auf die Vernichtung der Stadt. Viel
wichtiger als der eitle Glanz des Sieges war ihm die Frage, in welcher Form er die Besiegten
dauerhaft an sich bände. Auch hierin erwies sich Philipp als überlegener Politiker, der sich
in der griechischen Geschichte des 4. Jahrhunderts auskannte. Er griff das Modell der
Friedensgenossenschaft (des »Allgemeinen Friedens«) auf, das seit dem Königsfrieden
immer wieder als internationales Ordnungsschema verwandt und zuletzt von Athen gegen
ihn ausgespielt worden war; dabei hatte er auch ganz zutreffend erfaßt, daß dieser Pakt, der
dem Wortlaut nach jegliche Herrschaft verbannte, sich von jeder Herrschaft, wenn sie nur
effektiv war, mißbrauchen ließ.
So gab es denn in Korinth, wo diese Vereinigung - der modernen Geschichtswissenschaft
als »Korinthischer Bund« bekannt - zusammentrat, viele schöne Worte von »Freiheit«
und »Autonomie«, und jeder wußte dabei, daß diese genauso aussehen würden, wie es dem
allmächtigen Herrn paßte, nicht viel anders als vor einem halben Jahrhundert, als die
Spartaner unter der Firma des Königsfriedens ihre Gewaltherrschaft in Griechenland
zementierten. Auch jetzt war der Organisationsmechanismus des »Bundes« so konstruiert,
daß sich nach außen kein fremder Herrschaftswille zu erkennen gab. Auf der Versammlung,
dem Synhedrion, waren keine Makedonen, sondern nur die Hellenen vertreten, und zwar
merkwürdigerweise nicht als Abgeordnete ihrer Gemeinden, sondern zur Repräsentation
besonderer, mehrere Städte oder auch Stämme umfassender Matrikularbeitragskreise, in
denen eine bestimmte Anzahl von Truppen aufgebracht werden mußte, wonach sich
wiederum die Zahl der Abgeordneten errechnete.
In diesem interessanten Gedanken - er hatte gewisse Vorläufer in der früheren boiotischen
Bundesverfassung und teilweise auch in der spartanischen Praxis nach 387 - steckten
eigentümliche Ansätze zur Überwindung des atomisierenden Staatenpluralismus Griechenlands
(die Zukunft führte sie freilich nicht weiter), aber ebenso war bei dieser Konstruktion ängstlich
darauf Bedacht genommen, die Superiorität Philipps innerhalb des
Synhedrions nicht zu formalisieren, obgleich selbstverständlich jeder wußte, daß diese
eigenartige Zusammenfassung fast aller Festlandhellenen nur durch Philipps politischen
Willen geschah. Philipp behielt sich nur die Stellung eines exekutiven Militärorgans, des
bevollmächtigten Strategen (strategós autokrátor) vor, oder genauer gesagt: er schuf dieses
Organ für den Kriegsfall und kalkulierte dabei ein, daß nur er dazu gewählt werden konnte.
Zugleich war es Philipp klar, daß die so von ihm herbeigeführte »Einheit« Griechenlands
sich nur in kriegerischer Aktion integrieren konnte. Hierbei befand sich Philipp in einer
außerordentlich glücklichen Lage. Er selbst wollte schon lange, wahrscheinlich mit begrenzter
Zielsetzung, gegen das Perserreich zu Felde ziehen. Der Zeitpunkt war nach der
überraschenden Lösung des griechischen Problems gekommen. Es fehlte nur noch
die plausible Argumentation bei der griechischen Öffentlichkeit. Sie lag bereit-in der Isokrateischen
Idee von dem panhellenischen Feldzug gegen Persien. Philipp hatte den papierenen
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Charakter von Isokrates' Aufruf im Jahre 380 richtig durchschaut und konnte deshalb den
schlauen Einfall haben, ihn im selben Stil noch einen Schritt weiterzuführen, damit gleichsam
auf einen Schelm noch einen anderen setzend. Nach seiner Meinung sollten nämlich
die Griechen jetzt Rache nehmen für die Zerstörung der griechischen Tempel durch Xerxes,
also für einen Vorgang, der beinahe anderthalb Jahrhunderte zurücklag (!). Damit erschien
denn an der einzigen Stelle, welche die Herrschaft Philipps verriet, ein gemeingriechischer
»Auftrag«, sehr gut dazu geeignet, die wahre Realität ideal zu verbrämen und unter einer
verbindlichen Flagge die Kraft des unterworfenen Griechenlands den eigenen Zielen nutz-
bar zu machen.
Die weitere Geschichte ließ es nicht dazu kommen, uns zu zeigen, was in dieser Kombination
von Macht und schmeichlerischer Anpassung an einen bestimmten Zug des objektiven
Bewußtseins für Möglichkeiten lagen. Mit Alexander dem Großen, der zwei Jahre
später an der Stelle Philipps stand, verschoben sich alle Maßstäbe, und binnen kürzester
Zeit brach für einen Griechen die bisherige politische Weltordnung zusammen.
Die plötzliche Verwandlung der Welt durch Alexander war so erstaunlich, daß sie von den
Griechen wohl registriert, aber nicht eigentlich im Bewußtsein verarbeitet werden konnte.
Im Grunde entglitt den Menschen die Geschichte, und sie selbst blieben das, was sie waren.
Moralische Eroberungen machten bei den Griechen bezeichnenderweise weder Philipp
noch Alexander. Die herrschende Einstellung war konservativ, und es erschien viel wahrscheinlicher,
daß es so blieb wie bisher, als daß man einer Zukunft der unbegrenzten Möglichkeiten
entgegenging. Als das Perserreich zusammenstürzte und Alexander zweifellos
der mächtigste Mann des Abendlandes war, führten die Spartaner gegen Alexanders
Statthalter Antipater Krieg, und es hätte nicht viel gefehlt, daß die Athener mitmachten. Etwa
zur gleichen Zeit wurde in Athen ein merkwürdiger Prozeßkrieg durchgefochten: Demosthenes
und Aischines kämpften (auf Grund bestimmter formeller Voraussetzungen, die hier
nicht zu schildern sind) um das öffentliche Urteil, wessen Politik vor Chaironeia die richtige
gewesen sei. Sieger blieb der Unterlegene von 338! So wenig war das allgemeine Empfinden
durch die acht Jahre danach geformt und verwandelt worden. Unter diesen Umständen
kann es nicht verwundern, wenn 323 der Tod Alexanders in Griechenland und vor allem
auch in Athen die Überzeugung weckte, jetzt sei der Spuk, der mit Chaironeia begonnen
hatte, vorbei, und die alte Ordnung (oder Unordnung) müßte sich von selbst wiederherstellen.
Auch Demosthenes, der die letzten fünfzehn Jahre sehr vorsichtig gewesen war, erlag
dieser Illusion. Er mußte sie mit seinem Leben bezahlen. Als die makedonischen Waffen
siegten, blieb ihm nur der Selbstmord (322 v.Chr.).
Ist das nun der Abschluß der »klassischen« Epoche der Griechen? Eine peinliche Frage
für den Historiker, denn sie konfrontiert ihn mit Problemen, die über seinen Gegenstand
hinausgehen. Was ist schließlich eine Epoche, und wodurch wird sie definiert? Bedeutete
der Sieg Makedoniens, der eigentlich nur der Sieg Philipps und Alexanders war, lediglich
die Fortsetzung der griechischen Geschichte unter makedonischer Ägide, wurde griechische
Geschichte zur makedonischen Geschichte, oder etwa umgekehrt, wie es sich das
nationalstaatliche Denken des 19. Jahrhunderts einbildete? Hat der Sieger immer recht
und steht damit die historische »Vernunft« auf seiner Seite? Diese Fragen (und manche
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anderen noch) vermag der Chronist der klassischen Zeit nur zu stellen. Die Antwort läßt
sich allein der Betrachtung des Ganzen entnehmen. Die Rolle Makedoniens wurde gewiß
entscheidend für die griechische Geschichte, aber man muß sie mit der Wirkung nicht nur
Philipps, sondern ebenso Alexanders gleichsetzen, und es ist lehrreich zu sehen, was der
Einzelne maximal in der Geschichte fertigzubringen vermag und was schließlich dann
doch nicht. Die Betrachtung der klassischen Zeit führt nicht bis dahin, wo diese Überlegungen
virulent werden. Sie vermag nur zu veranschaulichen, wie die Voraussetzungen solcher
Problematik entstanden und wie es möglich wurde, daß das Schwergewicht der griechischen
Politik sich in den Norden verlagerte.